Die friedliche Revolution in Bolivien

Obwohl er sich bemüht, kann der 17-jährige Oscar Arze seine Schar von Vorschülern nicht dazu bewegen, die Lieder, die er ihnen geduldig beigebracht hat, vorzusingen. Die Kinder wollen auch nicht die einfachen Tänze vorführen, die sie sonst so lieben. Eine Gruppe von Besuchern in ihrem isolierten Dorf in den bolivischen Anden hat sie so scheu gemacht.

Oscar, an dessen Beinen sich die Kinder festklammern, ist zu stolz, den Besuchern seine kostbare Kopie von "Pinocchio" und die anderen Bücher und Lehrbehelfe, die er benützt um die Dorfkinder zu unterrichten, zu zeigen. Diese Materialien sind Teil eines Programmes, um diese Kinder anzuregen, in deren Leben es fast kein Lachen und keine Spiele mehr gibt, die so wichtig sind, um junge Geister auf das Lernen vorzubereiten.

Das Leben in den bolivischen Anden scheint noch dasselbe wie vor einigen Generationen zu sein, aber Oscar ist sicher, daß - trotz der Postkartenmotive von Frauen mit Filzhüten und Unterröcken, die Lamas hüten - sich bereits eine stille Revolution anbahnt. Das PROANDES-Programm, eine Kooperative der Regierung mit UNICEF und verschiedenen NGOs, zielt auf die Fähigkeiten der Menschen ab, ihr Leben zu verbessern: und zwar durch Aktivitäten, die Gesundheitsvorsorge, Schulbildung, Wasser und sanitäre Anlagen betreffen.

Das Programm begann 1988 um die Lebensbedingungen in den isolierten Gemeinden in allen fünf Andenstaaten - Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela - zu verbessern. Die Programme werden in den verschiedenen Ländern in Übereinstimmung mit den lokalen Bedürfnissen gestaltet.

"Die Bevölkerung war 1989 sehr schwach und sehr allein", sagt Walter Mercado, ein UNICEF-Ernährungsberater in La Paz. "Es gab eine große Beteilung am PROANDES-Projekt, und die Gemeinden fühlen sich jetzt stärker."

Diese Stärke ist lebenswichtig, da die Gemeinden so klein und isoliert sind, daß die Menschen auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen sind, die oft sehr dürftig sind. Ein Besuch der Bewohner des Gebietes von Tapacari beginnt mit einer zweistündigen Autofahrt auf einer gepflasterten Straße, die von Cochabamba wegführt, Boliviens drittgrößter Stadt. Während der nächsten Etappe springt das Auto auf steinigen Pfaden herum, und fährt durch "Dörfer", die aus einigen wenigen Hütten aus Lehm und Stroh bestehen.

Das Leben ist hart hier. Auf 4000 Metern und höher ist die Vegetation sehr spärlich. Der Boden ist dünn bedeckt mit "Paya Brava" , einer Grasart. Kleine Felseinfassungen sichern die verstreuten, kärglichen Kartoffelfelder, die nur durch den Regen bewässert und von Lamas gedüngt werden. Die Menschen ernähren sich von Kartoffeln, Bohnen, Getreide und getrocknetem Fleisch.
Das Leben in Oscar´s Dorf Palcoma ist jetzt in vielerlei Hinsicht besser als es früher war. Gesundheitsarbeiter besuchen regelmäßig das Dorf, um die Kinder zu impfen. Die Vorschule, die täglich von acht Uhr morgens bis Mittag geöffnet hat, versorgt die Kinder mit Frühstück und Mittagessen. Die Dorfbewohner wissen, wie man mit Oralem Rehydrationssalz umgeht. Sieben Kilometer weit weg - das ist ein Gehweg von zwei bis drei Stunden - befinden sich ein medizinischer Versorgungsposten und eine Grundschule, die zur Zeit von zehn Kindern aus Palcoma besucht wird.

Trinkwasser ist aber noch immer ein schwerwiegendes Problem. Während sich die Besucher mit den Dorfbewohneren unterhalten, holen die Kinder mit schmutzigen Konservendosen Wasser aus einer verschlammten Pfütze, die auch von den Lamas benützt wird.

Das Dorf Chunu-Chununi ist größer, dort leben ungefähr 60 Familien, und es gibt eine eigene Grundschule, die von PROANDES unterstützt wird. 24 Schüler besuchen diese Schule, aber dieses Jahr kam keine 1. Klasse zustande, da es nicht genügend Schulanfänger gab. Es gibt auch eine Vorschule, die von 18 Kindern besucht wird.

Bernaldino Franciscano Layme, das zuversichtliche Oberhaupt des Dorfes, nennt rasch die Punkte, die in Chunu-Chununi noch fehlen: ein Gesundheitszentrum und sauberes Trinkwasser. Unter den Kindern grassiert oft DIarrhoea, da der "Dorfbrunnen" ein kleiner, stagnierender Teich ist, in dem Raupen und Schmarotzer herumkriechen. Nicht weit davon trocknen die Kartoffelpflanzungen aus. "Es gab keinen Regen", sagt Mr. Layme, obwohl gerade Regenzeit herrscht. "Wir brauchen sauberes Wasser." Die Eltern verwenden Orale Rehydrationssalze, diese sind aber nicht immer verfügbar.

Mr. Layme´s Bemühungen um ein Gesundheitszentrum und um Trinkwasser sind ein Zeichen für den Erfolg des PROANDES-Programmes, sagt Nazario Tirado, Information/Communication Officer für UNICEF in La Paz. Eines der wichtigsten Ziele des Projekts ist es, den Menschen eine innere Stärke zu geben. Wenn sie einmal ihre fatalistische Hinnahme von Kränklichkeit und frühem Tod überwinden, wenn sie lernen, daß sie Rechte haben, und daß Mittel vorhanden sind, um ihre Probleme zu lösen, dann wird sich ihre Lebenssituation verbessern.

In Tapacari ist das PROANDES-Programm erst im Anfangsstadium. In einiger Zeit werden Techniker den Dorfbewohnern helfen, Systeme zu installieren, um das Dorf mit sauberem Quellwasser zu versorgen. Es wird Aktivitäten zur Unterstützung von Gesundheitsprogrammen geben, und die Menschen werden Hilfe bei der Nahrungsmittelproduktion erhalten.

Trotz des unergiebigen Bodens können kleine Veränderungen einen großen Unterschied bewirken, zum Beispiel in Bezug auf Kartoffelanbau. Das Saatgut wird normalerweise gemeinsam von einem Ehepaar angepflanzt: Er zieht eine Furche, sie setzt das Saatgut hinein und tritt dann die Erde mit dem Fuß nieder, dadurch wird das Saatgut oft zerstört, und so der Ertrag verringert. "Technische Ratschläge" von UNICEF können also ganz einfach darin bestehen, den Bauern sanftere Methoden des Ackerbaus zu zeigen.

Mr. Mercado kann bereits einige Veränderungen seit Beginn des Programmes nennen. "Die Menschen wissen jetzt, wie sie gewisse Dinge besser machen können, sie verstehen mit Geld umzugehen, sie machen Pläne und führen Projekte durch" , sagt er. Zusätzlich sind die lokalen Gruppen sehr aktiv in Bezug auf Themen wie Gesundheit und Schulbildung von Kindern. "Die Einschulungsrate in Vor- und Grundschulen ist angestiegen, die Teilnahme von Kindern an Impfungen und der Gebrauch der Oralen Rehydrationstherapie hat sich erhöht", fügt er hinzu.

Die Regierung wurde ebnfalls miteinbezogen, weil sich das PROANDES-Projekt mit dem "Law of Popular Participation" deckt, das Steuereinkünfte für die bolivischen Gemeinden vorsieht. Gebiete, die früher nicht berücksichtigt wurden, erhalten jetzt ihren gerechten Anteil der Einkünfte.

PROANDES ist in sieben Provinzen in Bolivien aktiv, insgesamt werden 300.000 Menschen unterstützt. UNICEF beteiligte sich bis jetzt mit US$7 Millionen an dem Projekt. Die Teilnahme von UNICEF an PROANDES wird bis mindestens 1997 weiterbestehen, Kanada, die Niederlande und Spanien stellen Zusatzfonds zur Verfügung.