Aktueller UNICEF-Report: Kindeswohl auch in reichen Ländern in Gefahr

Florenz/New York/Wien - Selbstmordversuche, mentale Probleme, Übergewicht, aber auch unzureichende schulische Kenntnisse kennzeichnen laut UNICEF das Aufwachsen von viel zu vielen Kindern in wohlhabenden Industrieländern. Dies ist das Ergebnis der neuesten Report-Card des UNICEF-Forschungszentrums Innocenti. Gleichzeitig warnt UNICEF vor gravierenden Gefahren für das Kindeswohl durch die Covid-19-Pandemie. Die Niederlande, Dänemark und Norwegen liegen in Bezug auf das Wohlergehen von Kindern auf den ersten drei Plätzen unter 41 Ländern der OECD und der EU. Österreich belegt im internationalen Vergleich Rang 16.

Peter (15) wäre wegen mangelnder Unterstützung fast durch das Rast gefallen, aber jetzt ist er wieder auf dem richtigen Weg und will Architektur studieren. Juli 2020, Österreich
Peter (15) wäre wegen mangelnder Unterstützung fast durch das Raster gefallen, aber jetzt ist er wieder auf dem richtigen Weg und will Architektur studieren. Juli 2020, Österreich © UNICEF

Für den Report „Worlds of Influence: Understanding What Shapes Child Well-being in Rich Countries“ („Einflusssphären – was das Wohlergehen von Kindern in reichen Ländern prägt“) wurden vergleichbare nationale Daten aus 41 Ländern der OECD und der Europäischen Union zur psychischen und physischen Gesundheit von Kindern sowie zu ihren schulischen und sozialen Kompetenzen und den damit verbundenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausgewertet.

„Viele der reichsten Länder der Welt, die eigentlich über genügend Ressourcen verfügen, scheitern, wenn es darum geht, allen Kindern eine gute Kindheit zu ermöglichen“, sagt Gunilla Olsson, Direktorin von UNICEF Innocenti. „Wenn Regierungen nicht schnell und entschlossen handeln und der Schutz von Kindern nicht Teil der Reaktion auf die COVID-19-Pandemie ist, müssen wir mit steigenden Armutsraten, einer Verschlechterung mentaler und physischer Gesundheit sowie einer wachsenden Kluft bei der Qualifikation von Kindern rechnen. Die Unterstützung von Kindern und ihren Familien während der COVID-19-Pandemie ist erschreckend unzureichend. Es muss mehr getan werden, um Kindern eine sichere und gute Kindheit zu ermöglichen – jetzt.“

Zentrale Ergebnisse des UNICEF-Reports

  • Mentale Gesundheit: In den meisten untersuchten Ländern geben weniger als 80 Prozent der 15-jährigen Mädchen und Buben an, zufrieden mit ihrem Leben zu sein. In der Türkei ist der Anteil mit 53% am niedrigsten, gefolgt von Japan und Großbritannien. In Österreich haben der Untersuchung zufolge 77 Prozent der Mädchen und Buben eine hohe Lebenszufriedenheit. Kinder, die wenig Unterstützung von ihren Familien erhalten oder unter Mobbing leiden, geht es mental signifikant schlechter. Litauen hat die höchste Selbstmordrate unter Jugendlichen – eine der Haupttodesursachen in der Altersgruppe zwischen 15 und 19 Jahren in reichen Ländern, gefolgt von Neuseeland und Estland.
  • Körperliche Gesundheit: Der Anteil der Kinder mit Fettleibigkeit (Adipositas) und Übergewicht ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Etwa eines von drei Kindern in den untersuchten Ländern ist entweder adipös oder übergewichtig. Die Raten wachsen besonders stark in Südeuropa. In Österreich liegt der Anteil bei 27%. In mehr als einem Viertel der reichen Länder liegt die Kindersterblichkeit bei Kindern zwischen fünf und 14 Jahren bei eins pro 1000. In Österreich ist der Anteil 0,80 pro 1000.
  • Soziale und intellektuelle Kompetenzen: Ungefähr 40% aller Kinder in EU- und OECD-Ländern verfügen mit 15 Jahren nicht über grundlegende Kenntnisse im Lesen und Rechnen. Kinder in Bulgarien, Rumänien und Chile schneiden hier im Vergleich am schlechtesten ab, am besten dagegen jene in Estland, Irland und Finnland. In den meisten Ländern hat eines von fünf Kindern nur wenig Vertrauen in seine soziale Fähigkeit, neue Freunde zu finden. Kinder in Chile, Japan und Island sind in dieser Hinsicht am wenigsten zuversichtlich. In Österreich sagen 77 Prozent der Mädchen und Buben, dass es ihnen leichtfällt, schnell Freundschaft zu schließen.

Der UNICEF-Report zeigt aber auch erkennbare Fortschritte für Kinder. Im Durchschnitt besuchen 95 Prozent aller Kinder im Vorschulalter organisierte Förderangebote. Die Zahl der jungen Menschen, die weder zur Schule gehen, noch eine Ausbildung machen oder an einem Trainingsprogramm teilnehmen, ist in 30 von 37 Ländern gesunken. Diese wichtigen Fortschritte sieht UNICEF allerdings durch COVID-19 in Gefahr.

Der Bericht stuft die Länder auch mit Blick auf ihre politischen Maßnahmen zur Förderung des Wohlbefindens von Kindern, ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation sowie der Umweltbedingungen ein. Norwegen, Island und Finnland weisen dabei die besten Bedingungen auf, gefolgt von Deutschland. Die Türkei, Mexiko und Griechenland schneiden hier am schlechtesten ab. Österreich belegt den 14. Platz.

Belastungen durch COVID-19 für Kinder katastrophal

Aufgrund der COVID-19-Pandemie haben die meisten untersuchten Länder Schulen für mehr als 100 Tage geschlossen und strikte Ausgangsbeschränkungen umgesetzt. UNICEF hebt hier die enormen Belastungen für Kinder durch die Pandemie hervor. Dazu zählen: Der Verlust von Angehörigen und Freund*innen, Angst, Ausgangsbeschränkungen, fehlende Unterstützung, Schulschließungen, das Ausbalancieren von Arbeit und Privatleben in den Familien, unzureichender Zugang zu Gesundheitsmaßnahmen sowie Einkommens- und Jobverluste. Diese Belastungen können Kindern enormen Schaden zufügen – sie gefährden ihre mentale und körperliche Gesundheit und Entwicklung.

Bereits vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie lag die durchschnittliche relative Armutsrate (60% des nationalen Medianeinkommens) bei Kindern in EU- und OECD-Ländern bei 20 Prozent. In Österreich lag sie bei 19,2 Prozent. Mit dem erwarteten starken Rückgang der Wirtschaftsleistung in den nächsten zwei Jahren in fast allen untersuchten Ländern wird ohne schnelle Gegenmaßnahmen der Regierungen die Kinderarmut steigen.

„Wenn die Folgen der Pandemie immer stärker auf Wirtschaft, Bildung und Zusammenleben durchschlagen, werden diese ohne konzertierte Gegenmaßnahmen verheerende Auswirkungen für das Wohlergehen der heutigen Kinder, ihrer Familien und der Gesellschaften, in denen sie leben, haben“, sagt Gunilla Olsson, Direktorin des UNICEF-Forschungszentrums Innocenti. „Aber diese Risiken müssen nicht Realität werden, wenn Regierungen entschlossen aktiv werden, um das Wohlergehen der Kinder zu schützen.“

Auf Grundlage des Reports und der aktuellen Entwicklungen ruft UNICEF zu folgenden Maßnahmen auf:

  • Einkommensungleichheit und Kinderarmut müssen entschlossen bekämpft werden, damit alle Kinder Zugang zu den Ressourcen haben, die sie brauchen.
  • Die unzureichende Versorgung mit Hilfsangeboten im Bereich mentaler Gesundheit muss schnellstens überwunden werden.
  • Familienfreundliche Politik zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss ausgeweitet werden; insbesondere der Zugang zu hochwertigen, flexiblen und bezahlbaren Betreuungsangeboten für Kinder in den ersten Lebensjahren.
  • Der Schutz von Kindern vor vermeidbaren Krankheiten muss gestärkt werden, der Trend zu sinkenden Masernimpfungsraten muss umgekehrt werden.
  • Die COVID-19-Maßnahmen für Familien und Kinder müssen verbessert werden. Budgets, die das Wohlergehen von Kindern unterstützen, müssen vor Sparmaßnahmen geschützt werden.

Für Redaktionen

Über die Report-Card
Der Bericht „World of Influence“ baut auf vorangegangenen Untersuchungen zum Kindeswohl in Industrieländern in den UNICEF-Report-Cards 11 (2013) und 7 (2007) auf.

Den vollständigen Bericht können Sie hier in Englisch downloaden.

Die österreichischen Daten können Sie hier downloaden.

Die Zusammenfassung des Berichts können Sie hier in Deutsch downloaden.

Videomaterial Österreich: Peter ist 15 Jahre alt und lebt in Österreich. Er liebt Mathematik, hatte jedoch Probleme mit dem Unterricht im Gymnasium und hat in die Mittelschule gewechselt. Hier hat er seine Liebe zu Mathematik wieder entdeckt und verfolgt seinen Wunsch nach der Schule zu studieren.

Eine Auswahl an Videos und Fotos steht Redaktionen im Rahmen der Berichterstattung zum kostenfreien Download zur Verfügung.

Politische Podiumsdiskussion zum Launch der Report Card 16

Über UNICEF Innocenti

Das UNICEF-Forschungszentrum Innocenti gehört zu UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Es erforscht neu aufkommende oder aktuelle Fragestellungen zum Aufwachsen von Kindern. Ziel ist es, Informationen für die strategische Ausrichtung von Programmen für Kinder bereitzustellen sowie weltweite Debatten zu Kinderrechten und ihrer Entwicklung anzustoßen.