Virologin betont „Die Kinder tragen im Moment auch die Last, dass nicht genug Erwachsene geimpft sind“

Interview mit Prof. Dorothee von Laer am 25.11.2021 - Die Virologin Prof. Dorothee von Laer beantwortete mit ihrer Expertise unsere Fragen zu den Themen Impfungen, Kinderimpfungen und COVID-19 und teilt ihre persönliche Einschätzung zu der Situation in Schulen.

Zwei Buben in der Ukraine werden bei einer Kinderärztin geimpft.
© UNICEF/UN0284873/Filippov

Ab welchem Alter sollte ich mein Kind impfen lassen?

Sobald das Kind in die Schule geht, sollte man es auch impfen lassen. Die Impfstoffe sind jetzt bereits ab fünf Jahren freigegeben, also auch in der Vorschule sollte man die Kinder ab fünf Jahren schon impfen lassen.

Welche Nebenwirkungen hat die Corona-Impfung bei Kindern?

Die Kinder vertragen die Impfungen eigentlich in der Regel ganz gut. Aber es kann natürlich auch bei ihnen hin und wieder zu Fieber, Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen führen für einen Tag. Diese Impfreaktionen kennt man allerdings auch von anderen Kinderimpfungen, da ist es nicht anders.

Es werden gerade mehrere Impfstoffe für Kinder zugelassen. Hat die Tatsache, dass diese Prozesse länger dauern etwas mit Unsicherheit zu tun oder ist es Vorsicht?

Man musste ja die Studien durchführen, das ist bei Kindern besonders aufwendig. Die Studienlage hat es zugelassen, dass die USA bereits die Zulassung ab fünf Jahren erteilt haben und wir warten jetzt täglich auf die EMA Zulassung (Anm.: Das Interview wurde vor der Zulassung durchgeführt).

Viele Eltern machen sich Sorgen, sie meinen bei Kindern ist es besonders heikel und man muss besonders aufpassen. Wie kann man Eltern ihre Bedenken nehmen?

Man hat jetzt nochmal eine besondere Sorgfalt bei den Kindern walten lassen. Ab 12 Jahren ist der Impfstoff bereits zugelassen, da hat man auch schon einige Erfahrungen, da schon viele Kinder und Jugendliche geimpft sind. Nachdem jetzt eine jüngere Altersgruppe drankommt, hat man nochmal viel Sorgfalt walten lassen. Man hat noch mehr Zeit verstreichen lassen – damit man bei den Älteren Erfahrungen sammeln konnte und auch eben die Studien bei Kindern sorgfältig nachbeobachtet. Man ist da noch vorsichtiger und zurückhaltender mit einer Zulassung. Es ist nicht zu erwarten, dass ein Kind deutlich anders reagiert als ältere Kinder oder Erwachsene. Der Impfstoff für Kinder ab 5 ist sicher.

Viele Diskussionen beziehen sich darauf, dass man noch keine langfristigen Erfahrungen mit mRNA Impfstoffen hat und einige Menschen daher noch zuwarten wollen. Ist das ein Argument?

mRNA Impfstoffe für andere Indikation, zum Beispiel Krebs, sind bereits länger in Erprobung, nämlich seit 10 Jahren oder länger. Es bestehen bereits längere Erfahrungswerte und daher ist das Argument, dass man wenig Erfahrungen mit mRNA-Impfstoffen besitzt, so nicht zulässig.

Die meisten Nebenwirkungen von Impfstoffen, die extrem selten sind – ich spreche hier nicht von Impfreaktionen direkt nach der Impfung, sondern von seltenen Nebenwirkungen, die man bei anderen Impfstoffen bei 1:100.000 oder 1:200.000 Fällen beobachtet –  treten in den ersten Monaten auf. Es gibt überhaupt keinen Impfstoff mit Spätfolgen, die erst nach einigen Jahren aufgetreten sind. Der Impfstoff ist ja auch wenige Tag nach der Impfung auch aus dem Körper eliminiert. Es gibt vielleicht immunologische Nachwehen, wie die ganz seltenen Blutgerinnungsstörungen. Insofern ist der Zeitraum, in dem bisher geimpft wurde und die Anzahl der Menschen, die geimpft wurden, ein Datensatz, der absolut mit denen von anderen Impfstoffen konkurrieren kann. Es gibt für überhaupt kein Medikament Langzeitbeobachtungen, wenn das Medikament abgesetzt wurde. Wenn wir zum Beispiel von Langzeitbeobachtungen von Herzmitteln sprechen, dann beobachten wir Menschen, die dieses Mittel dauernd einnehmen und untersuchen, was es auf Dauer mit ihnen macht. Es wird nicht drei Jahre nach der Absetzung überprüft, was mit diesen Menschen passiert. Daher ist dieser Vergleich mit anderen Medikamenten und Langzeitbeobachten unzulässig. Wie gesagt, der Impfstoff ist nur wenige Tage da, es gibt vielleicht immunologisch ganz selten leichte Nachwehen. In Anbetracht der Tatsache, dass jeder sich entweder impfen oder infizieren wird in den nächsten Monaten, ist denk ich das Risiko immer abzuwägen im Verhältnis mit dem Risiko einer COVID-19 Erkrankung abzuwägen. Wir wissen: Auch Kinder können schwere Verläufe haben und unter Langzeitfolgen leiden– also Long COVID entwickeln. Das drängendste ist natürlich jetzt, dass die Risikokinder geimpft werden – das muss ich auch sagen – bevor wir es jetzt wirklich schaffen breit die 5-14-jährigen durchzuimpfen. Kinder mit Asthma, Kinder mit Übergewicht, Kinder die zuckerkrank sind sollten sich jetzt so rasch wie möglich impfen lassen.

Darüber hinaus haben wir für nun in Zulassung befindliche Proteinimpfstoffe /Totimpfstoffe weniger Erfahrung, da sie eben erst zugelassen werden. Kurzzeitig geben mRNA-Impfstoffe einen besseren Schutz, langfristig müssen wir das lernen und beobachten. mRNA-Impfstoffe geben auch einen besseren Schutz gegen Fluchtvarianten als Proteinimpfstoffe. Lebendimpfstoffe wären eine spannende Überlegung, aber bisher gibt es kaum Ansätze dafür.

Wie ist die Gefahr von Long Covid zu bewerten in Bezug auf Kinder und Jugendlichen?

Es ist klar, dass es Long Covid bei Kindern gibt und, dass es wohl seltener als bei Erwachsenen auftritt. Wie häufig es wirklich ist, wissen wir am Ende noch nicht, aber es gibt es eindeutig. Und wie gesagt: Dadurch, dass die Impfung sicher ist und die Infektionen ein deutlich höheres Risiko zeigt, ist die Impfung immer vorzuziehen. Man kann nicht damit rechnen, dass das eigene Kind davon verschont bleibt, dass es sich nicht infiziert.

Welche positiven Effekte hat eine Impfung von Kindern und Jugendlichen?

Diese psychologische Belastung, dass man immer unter Bedrohung ist, sich zu infizieren, dass man nicht frei mit seinen Freundinnen und Freunden spielen kann, dass die Schule immer kurz vor einem Lockdown ist – eine hohe Durchimpfungsrate bei den Kindern würde all diese Probleme schlagartig lösen. Man könnte die Schulen öffnen und offen lassen, die Freizeitangebote wieder voll walten lassen. Die Kinder müssen keine Angst haben, dass sie ihre Großeltern anstecken. Es würde eine Menge psychologischen Druck von den Kindern nehmen und auch von ihren Familien.

Aus jetziger Erfahrung, von welchen Werten sprechen wir hier? Am Beispiel einer Schulklasse, wie viele Kinder müssten geimpft sein, um isoliert gesehen eine „herdenimmune“ Klasse zu haben?

Wenn 90% der Kinder immun sind in einer Klasse, wäre das natürlich eine gute Zahl. Aber die Immunität wird ja auch durch Infektionen aufgebaut. Momentan haben wir eine Inzidenz von 2.000 bei den 5-14-jährigen Kindern, das bedeutet jede Woche gibt es 2% mehr genesene und immune Kinder. Es würde mich nicht wundern, wenn der Anteil der immunen Kinder auch jetzt schon erheblich wäre.  Es könnte sich durchaus lohnen, bei Kindern Antikörpertest zu machen, auch großflächig. Das eine oder andere Kind ist vielleicht schon längst immun ohne, dass es aufgefallen ist. Dann kann man sich erstmal zumindest die Impfung auch sparen, wenn man will und da ist es natürlich vorrangig die Kinder ohne Immunität zu impfen, von den Risikokindern mal abgesehen.

Nachdem es in den letzten Wochen einige Debatten dazu gab: Was bedeutet eigentlich "off-label" bei Impfungen und Medikamenten?

Es gibt Medikamente, die nützt man für Anwendungen, für die sie nicht direkt zugelassen sind. Der Impfstoff (Anm.: Biontech/Pfizer) ist nicht für Kinder unter 12 zugelassen (Anm.: das Interview fand vor der offiziellen Zulassung durch die EMA und das nationale Impfgremium statt)  und der Label ist praktisch das, wozu es zugelassen ist.  „Off-label“ ist eben die Anwendung für Bereiche, in denen das Medikament oder der Impfstoff nicht zugelassen ist.

Das ist allerdings bei Kindern total üblich. Kinderärzte und Kinderärztinnen sind es gewohnt, off-label-Behandlungen zu machen. Viele Medikamente, die im Erwachsenenbereich zugelassen worden sind, werden bei den Kindern auch ohne Zulassung eingesetzt – weil sie einfach wirken. Die Pharmafirmen führen oft keine extra Kinderstudien durch.. Aber vor allem in der Krebstherapie und auch in vielen anderen Bereichen gibt es ganz viele Medikamente, die für Kinder eingesetzt werden. Da weiß man aus Erfahrung, es ist wirksam und man setzt sie ein, auch wenn sie nicht offiziell zugelassen sind.

Wer empfiehlt die "off-label"-Impfung?

Die Kinderärzte und Kinderärztinnen sichern sich über die sogenannten Guidelines ab, die es für jede Erkrankung gibt.  Bei Impfungen ist die Empfehlung des nationalen Impfgremiums der Maßstab, wenn das eine „off-label“-Impfung für Kinder empfiehlt, ist das für Ärztinnen und Ärzte ok.

Wie soll ich mit meinem Kind/Jugendlichen über die Covid-19 Impfung sprechen?

Wie über jede andere Impfung. Kinder gehen ja auch sonst impfen. Es wäre natürlich schön, wenn die Eltern erzählen, warum sie geimpft werden. Das funktioniert vielleicht bei ganz kleinen Kindern noch nicht. Aber man einfach sagt: Das schützt euch davor krank zu werden. So wie man ihnen erklärt, dass sie einen Sitzgurt tragen, um bei Unfällen geschützt zu sein. Das sollte man völlig sachlich machen, ohne Aufbauschen. Das ist jetzt eine nicht-virologische Meinung, aber je mehr Aufregung Eltern über Arztbesuche machen, desto nervöser werden auch die Kinder. Ich bin der Meinung, man sollte das mit einer freundlichen Selbstverständlichkeit machen, dann ist das in der Regel für Kinder auch unkompliziert.

Sollte mein Kind in die Schule gehen, wenn es nicht geimpft ist?

Wenn man momentan das Kind daheim unterrichten kann, würde ich es tun (Anm.: Ende November 2021). Ich würde das Kind momentan nicht in die Schule schicken und schon gar nicht, wenn es ein Risikokind ist und nicht geimpft ist. Oder eine Risikoperson im Haushalt lebt, wo Kontakt nicht vermeidbar ist. Dann würde ich das Kind momentan zu Hause unterrichten, wenn es irgendwie machbar wäre.

Deswegen ist es auch so wichtig, Risikokinder eher gestern als heute zu impfen, damit die auch wieder beruhigt in die Schule gehen können.

Welche gesamtgesellschaftlichen Vorteile sehen Sie in Impfungen bzw. einer hohen Durchimpfungsrate? Krankheiten wie die Pocken oder auch Polio wurden ja dank Impfungen ausgerottet bzw. eingedämmt.

Zum Glück ist Corona, wenn gleich es eine schwere Erkrankung ist, nicht so schwer wie Pocken oder auch Polio. Die Delta-Variante ist einfach viel ansteckender als Polio und Pocken und die Impfung ist leider nicht so effizient, wie es die Polio- oder Pockenimpfung war. Das waren beides Lebendimpfungen und die sind einfach sehr, sehr effizient. Wir werden Corona auch mit noch so einer guten Durchimpfungsrate nicht eliminieren. Aber wir können es zu einer endemischen Erkrankung machen. Wie die Grippe oder andere Erkrankungen. Wir werden in Zukunft, wenn die Bevölkerung immunisiert ist – entweder durch Impfungen oder Genesenen-Status – werden wir einfach im Winter die Corona-Influenza Saison haben. Früher hatten wir nur die Influenza-Saison. Man wird sich im Herbst, vor allem als Risikoperson, gegen Corona und das Grippevirus impfen lassen, damit man im Winter geschützt ist. Und irgendwann wird man vermutlich auch die Corona-Impfstoffe anpassen müssen, wie man das jedes Jahr für die Grippeimpfstoffe tut. Und so werden wir durch den Winter kommen. Jeder und jede wird versuchen, ohne Grippe und Corona durch den Winter zu kommen. Aber es wird sich nicht vermeiden lassen, dass sich ein paar Menschen anstecken werden und krank werden. Aber das Gesundheitssystem wird damit umgehen können und das ist ja das Entscheidende.

Für Kinder gilt das natürlich besonders, weil sie viel zum Infektionsgeschehen beitragen, wie wir jetzt sehen. Und bevor dieser endemische Grad erreicht ist, muss es eben eine hohe Durchimmunisierung bei Kindern geben. Sonst wird man es nicht schaffen. Aber die Kinder tragen im Moment auch die Last, dass nicht genug Erwachsene geimpft sind.

Auf was werden wir uns einstellen müssen? Werden wir regelmäßig Booster-Impfungen benötigen?

Ich kann nicht in die Kristallkugel gucken, wie lange die Immunität nach der dritten Impfung halten wird. Aber ich denke, es ist zumindest nicht verkehrt, sich darauf einzustellen, dass sie zumindest ein Jahr hält – wie die Grippeimpfung. Und man sie jährlich auffrischen muss, wenn sie länger hält umso besser. Also es ist durchaus realistisch, dass sich alle die sich jetzt die dritte Impfung geholt haben, in einem Jahr gemeinsam mit der Grippeimpfung auffrischen. Durch das Kursieren des Virus, wenn wir keine Maßnahmen mehr haben, wenn Masken vielleicht nur mehr von wenigen zum Selbstschutz getragen werden, dann wird das Virus unterschwellig zirkulieren. Die immunen Personen können dann unbemerkt oder mit leichten Erkältungssymptomen einen Booster bekommen. Das jährliche Auffrischen mit der Impfung und das natürliche Boostern durch die Zirkulation wird das Virus hoffentlich in Schach halten. Damit wir nicht wieder die Katastrophensituation haben wie jetzt.

Wir danken für das Gespräch!

COVAX

Die COVID-19 Pandemie wird erst ein Ende finden, wenn genug Impfstoffe auf der ganzen Welt fair verteilt sind – soviel ist klar. Im Rahmen der COVAX-Initiative ist UNICEF für die logistische Abwicklung der globalen Impfkampagne verantwortlich, mit der mindestens 2 Milliarden Impfdosen verteilt werden sollen. Wir sichern Kühlketten, bringen die Impfstoffe zu den Menschen, liefern Materialien und schulen Personal. COVAX ist eine globale Initiative, in der die Impfallianz Gavi, die Weltgesundheitsorganisation, UNICEF sowie die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) zusammenarbeiten, um eine gerechte globale Verteilung von COVID-19 Impfstoffen zu ermöglichen.

Mehr Informationen zur COVAX-Initiative und zur Corona-Nothilfe von UNICEF.