„In Afghanistan höre ich keine Kinder lachen“

Blog: Wien/Kabul – Sam Mort leitet die Kommunikationsabteilung von UNICEF in Afghanistan. Gemeinsam mit ihrem Team besucht sie Gesundheitszentren und andere Orte im ganzen Land, um zu helfen und sich ein Bild über die Situation der Kinder und Familien zu machen. Ihre Erzählungen sind so berührend und jedes Wort ist ein Appell an uns alle, das Leid der Menschen in Afghanistan nicht zu ignorieren. Im Interview haben wir mit Sam Mort über die Hungerkrise, die Situation für Mädchen und die Armutsspirale in Afghanistan gesprochen.

Vor welchen Herausforderungen stehen Kinder in Afghanistan aktuell?

„Wir haben fast 3,5 Millionen Kinder, die akut mangelernährt sind und eine Million, deren Leben durch schwere akute Mangelernährung bedroht sind. Die Kinder, die ins Krankenhaus eingeliefert werden, sind die chronischen Fälle mit Komplikationen. Sie leiden alle auf unterschiedliche Weise. Es gibt einige, die im traditionellen Sinn abgemagert sind, weil sie hungern. Sie sind also nur Haut und Knochen. Ihre Haut ist trocken und faltig. Oft ist ihr Brustkorb dekomprimiert. Sie ringen nach Luft. Das sind sehr, sehr alarmierende Bilder.

Für mich war es schon immer beunruhigend, diese Kinder zu sehen, aber es ist noch beunruhigender geworden, die Reaktion ihrer Mütter zu erleben. Sie leben in Verzweiflung, weil sie wissen, dass es kein Licht am Ende des Tunnels gibt. Sie sehen keinen Ausweg aus ihrem Leid. Selbst wenn sie ihr Kind aus dem Krankenhaus mit nach Hause nehmen – sie wissen, dass sich der Kreislauf wiederholen wird und ihr Kind wieder ins Krankenhaus muss. Und so weinen die Mütter einfach, sie weinen. Im Krankenhaus kam eine Mutter mit einem Rezept in der Hand zu mir und sagte traurig: ‚Der Arzt hat mir ein Rezept gegeben, ich brauche dieses Medikament für mein Kind, aber ich habe kein Geld für das Rezept.‘

Eine andere Sache, von der wir im Krankenhaus gehört haben, ist der Zusammenhang zwischen der Arbeitslosigkeit und Mangelernährung bei Kindern. Wenn ich die Mütter der mangelernährten Kinder im Krankenhaus frage ‚Wie konnte es so weit kommen? Was ist passiert?' sagt jede Einzelne von ihnen ‚Mein Mann hat seine Arbeit verloren'. 

Sie sind wirklich sehr verzweifelt. Wenn man sich den Lebensmittelpreisindex anschaut, sieht man, dass die Preise seit August stetig steigen. Damit sind die Grundnahrungsmittel wie Mehl, Reis und Öl für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich geworden. Die Ironie ist, dass es in jeder Stadt und jedem Dorf in Afghanistan reichlich Lebensmittel gibt. Es ist nicht so, dass es einen Mangel an Lebensmitteln gibt. Vielmehr fehlt es an Geld, um sie zu kaufen.“

Wie ist die aktuelle Situation für Mädchen in Afghanistan?

„Im ganzen Land werden die Rechte von Mädchen und Frauen nicht in vollem Umfang anerkannt. Mädchen können die Volksschule besuchen. Alle weiteren Schülerinnen wurden aufgefordert, zu Hause zu bleiben, bis die Behörden einen Rahmen schaffen können, der ihre sichere Teilnahme an der Schule ermöglicht. Wir hoffen, dass die Schulen Ende März wieder für alle Kinder, auch für Mädchen geöffnet werden. Deshalb setzen wir uns bei den Behörden sehr stark dafür ein, dass die Rechte aller Mädchen und Frauen anerkannt werden. Es ist noch viel zu tun, aber UNICEF gibt niemals auf und wir werden uns weiterhin nach besten Kräften dafür einsetzen.”

Welches Erlebnis hat Sie in den letzten Monaten am meisten bewegt?

"Das ist es eine Geschichte, die ich gestern erlebt habe. Nach dem Unterricht in Maiden Wardak hat sich eine Gruppe von Buben aus dem Dorf versammelt, um zu sehen, wer wir sind und was wir tun. Obwohl 60 Zentimeter hoch Schnee gelegen ist, hatten einige von ihnen Flipflops an und nackte Zehen. Sie waren so unzureichend gekleidet. Ihre Nasen waren rot und liefen. Ihre Hände waren eiskalt.

Ich habe begonnen, Schneebälle mit ihnen hin und her zu werfen und binnen kurzer Zeit haben mich alle sieben Kinder mit Schneebällen beworfen.  Ich musste lachen und sie haben gelacht. Den Klang von Kinderlachen fand ich unglaublich berührend. In Österreich und in vielen Ländern der Welt ist das Lachen von Kindern eine Selbstverständlichkeit.

Es hat mich einfach innehalten lassen, weil ich in Afghanistan keine Kinder lachen höre. Die Freudenschreie und die Energie, obwohl ihnen eiskalt war. Sie sind in nur einer Sekunde in die Kindheit zurückgekehrt. Es war eine Freude, das zu hören. Es war so eine Bestärkung für das ganze Team und es war auch eine Erinnerung, wie stark und resilient diese Kinder sind. Sie sind stark, widerstandsfähig, angstfrei und hoffnungsvoll.“

Hier geht’s zum Video der Schneeballschlacht.

Wie schätzen Sie die Situation der Kinder in Afghanistan für das Jahr 2022 ein?

„Ich muss leider sagen, dass es in den nächsten Monaten ziemlich düster aussieht. Denn wir haben erst die Hälfte des Winters hinter uns, und je mehr ich von Müttern und Vätern höre, desto hoffnungsloser scheint es. Väter haben keine Arbeit. Den Familien ist das Geld ausgegangen. Es ist Winter, also gibt es kein Gemüse oder Obst, das vor Ort wächst. Die letzte Ernte war schwach, weil wir im Jahr 2021 einen so trockenen Sommer hatten. Die Lebensmittel, auf die sich die Menschen normalerweise verlassen würden, um den Winter zu überstehen, gibt es also nicht.

Ich denke daher, dass wir in den nächsten Monaten eine Eskalation der Krise erleben werden. Wir werden vor einer Katastrophe zurückschrecken. Die Kinder werden kränker und schwächer und anfälliger werden. Wir sehen bereits sehr negative Bewältigungsstrategien von Eltern, die an den Rand der Verzweiflung getrieben werden. Wir sehen Eltern, die ihre Kinder aus der Schule nehmen, damit sie arbeiten gehen. Und wir sehen Eltern, die gezwungen sind, eines ihrer Kinder einzutauschen. Sie brauchen das Geld, um den Rest der Familie zu ernähren, also lassen sie ein Kind gehen. Das ist eine herzzerreißende Situation und symptomatisch für die extreme Armut, die das Land erlebt.

Nach Angaben des Entwicklungsprogrammes der Vereinten Nationen werden bis Mitte des Jahres 97 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Mit Blick auf das Jahr 2022 hoffe ich daher sehr, dass die weltweite Gebergemeinschaft sich für die Frauen und Kinder einsetzt, denn sie zahlen den höchsten Preis für die Krise, die sie nicht selbst verschuldet haben. Ich würde sagen, dass das Ausmaß des menschlichen Leids, das wir in Afghanistan sehen, so schlimm ist, wie ich es noch nie gesehen habe.”

Womit können wir derzeit am meisten helfen?

„Wir brauchen weitere Gelder, die wir flexibel einsetzen können. Ironischerweise haben wir jetzt Zugang zu mehr Teilen des Landes als je zuvor, da es keine Kämpfe zwischen den Taliban und der ehemaligen Regierung mehr gibt. Wir haben ein starkes Netzwerk und Lagerhäuser überall. So könnten wir alles liefern, jedoch brauchen wir mehr Hilfsgüter und dafür brauchen wiederum mehr Mittel.“