Gewalt gegen Kinder

UNICEF-Studie zu Todesfällen bei Kindern durch Misshandlung<br />und Vernachlässigung in den Industrieländern<br />

Jedes Jahr sterben in den Industrieländern rund 3.500 Kinder an den Folgen von Misshandlungen und Vernachlässigung. Jede Woche sind dies in Deutschland und England mindestens zwei Todesfälle, in Frankreich drei, in Japan vier und in den USA 27. Dies ist das Ergebnis einer internationalen UNICEF-Studie zu Kindestötungen in den OECD-Ländern. Todesfälle sind jedoch nach Einschätzung von UNICEF nur die Spitze eines Eisbergs alltäglicher Gewalt gegen Kinder. So kommen nach einer Untersuchung in Australien auf einen Fall von Kindestötung 150 belegte Fälle schwerer Misshandlungen. Eine Untersuchung in Frankreich geht von einem Verhältnis von 1 zu 300, eine Studie in Kanada sogar von 1 zu 1.000 aus.

Kindesmisshandlungen sind sehr häufig mit Armut, Stress und Isolation der Eltern ­ verstärkt durch Alkohol- und Drogenmissbrauch ­ verbunden. Gleichzeitig weist UNICEF darauf hin, dass das Risiko für Misshandlungen auch mit der allgemeinen Verbreitung von Gewalt in der Gesellschaft zusammenhängt. So verzeichnen die Länder mit den wenigsten Kindestötungen auch die wenigsten Morde unter Erwachsenen. Umgekehrt weisen die drei Länder mit den meisten gewaltsamen Todesfällen bei Kindern ­ USA, Mexiko und Portugal ­ auch die höchsten Mordraten unter Erwachsenen auf.

UNICEF Österreich ruft anlässlich des Weltkindertages dazu auf, ein allgemeines Bewußtsein für Gewaltlosigkeit gegenüber Kindern zu fördern und vorhandene Strukturen für Krisenintervention zu verstärken. Dazu gehört die Sensibilisierung von Mitarbeitern in Kindergärten, Schulen, Jugendeinrichtungen und Krankenhäusern. "Jede Gewalt gegen Kinder verstößt gegen die Menschenrechte und ist nicht tolerierbar. Schläge und Misshandlungen beeinträchtigen die gesamte Entwicklung eines Kindes", sagte Dr. Gudrun Berger, Generalsekretärin von UNICEF Österreich.

Ein Eisberg der Gewalt
Die meisten Misshandlungen von Kindern geschehen im Verborgenen, oft in ihren eigenen Familien. Sterben Kinder an den Folgen, wird dies in der Regel erfasst. So registrierten die OECD-Länder in einem Zeitraum von fünf Jahren 17.253 Todesfälle von Kindern unter 15 Jahren auf Grund körperlicher Misshandlung. 4.197 waren jünger als ein Jahr alt. In Österreich starben in diesem Zeitraum 66 Kinder, 16 davon vor ihrem ersten Geburtstag.

Zwar ist in 14 von 23 Industrieländern, für die vergleichbare Daten vorliegen, die Zahl der Kindestötungen seit den 70er Jahren leicht gesunken. Dies ist zum einen auf die stärkere Sensibilität in der Öffentlichkeit und vermehrte Kinderschutzprogramme zurückzuführen. Aber auch Fortschritte in der Notfallmedizin haben dazu beigetragen, dass mehr Kinder überlebten. Gleichzeitig stiegen aber die Berichte über nicht-tödliche Misshandlungen an.

Glücklicherweise ist die Tötung eines Kindes ein vergleichsweise seltenes Ereignis. Untersuchungen zeigen auch, dass es nicht unbedingt den extremen Endpunkt kontinuierlicher, sich steigender Misshandlungen darstellt. Eltern, die ihre Kinder töten, sind häufig selbst psychisch schwer gestört und befinden sich in einer Ausnahmesituation. Die Auswertung von 100 Kindestötungen in Schweden ergab, dass in der Hälfte der Fälle der Vater oder die Mutter nach der Tat Selbstmord begingen. Für die allermeisten Eltern, auch für die, die ihre Kinder misshandeln, gibt es eine klare Grenze zum Mord.

Die Eltern, die oft schlagen, schlagen am härtesten
Für viele Kinder in den Industrieländern gehören Schläge bis heute zum Alltag:
+ Interviews mit 3.000 jungen Erwachsenen in England ergaben, dass rund sieben Prozent von ihnen als Kinder schwere körperliche Misshandlungen erlebt hatten. 25 Prozent gaben an, minderschweren Misshandlungen ausgesetzt gewesen zu sein.
+ Eine andere Untersuchung in England Mitte der 90-er Jahre zeigte, dass 97 Prozent der Ein- bis Vierjährigen gelegentlich geschlagen wurden, die Hälfte von ihnen einmal in der Woche. Zwei Drittel der Mütter sagten, dass sie ihrem Kind vor dem ersten Geburtstag eine Ohrfeige gaben. Eine ähnliche Studie in den USA im Jahr 2000 ergab, dass bei 94 Prozent der Kinder zwischen ein und vier Jahren Ohrfeigen und Schläge zur Erziehung gehörten.

UNICEF kommt zu dem Ergebnis, dass schwere Misshandlungen dort besonders häufig vorkommen, wo auch "leichte" körperliche Gewalt an der Tagesordnung ist ­ auch wenn diese nicht überall automatisch zu schweren Misshandlungen eskalieren. Mit anderen Worten: Die Eltern, die oft schlagen, schlagen am härtesten.

Risikokinder
Alkohol- und Drogenmissbrauch, Gewalt in den Familien sowie Armut und Isolation sind in allen Industrieländern Schlüsselfaktoren für die Verbreitung von Kindesmisshandlung:
+ Alkohol- und Drogenmissbrauch: Eine Befragung von Sozialarbeitern in den USA ergab, dass die Hälfte aller Fälle von Kindesmisshandlungen mit Alkohol- und Drogenkonsum der Eltern zusammenhängt. Diese schaffen es oft nicht, sich um ihre Kinder zu kümmern, haben ein niedriges Selbstwertgefühl, eine geringe Frustrationstoleranz und verlieren leichter die Selbstkontrolle.
+ Gewalt in den Familien: Eine Studie in Deutschland ergab Ende der 90-er Jahre, dass von den Kindern, die oft Zeuge von Gewalttätigkeiten in der Familie waren, 20 Prozent selbst schwer misshandelt wurden. Insgesamt zeigte ein internationaler Vergleich, dass 40 bis 70 Prozent der Männer, die körperliche Gewalt gegen ihre Partnerin anwenden, auch ihre Kinder schlagen.
+ Armut und Stress: Eine Untersuchung von 7.600 Misshandlungsfällen in Kanada ergab, dass zwei Drittel mit Stress und Überforderung zusammen hingen. In einem Viertel der Fälle hatten die Mütter oder Väter keinerlei soziale Unterstützung.

Schläge fürs Leben
Misshandlungen beinträchtigen die gesamte Entwicklung der Kinder: ihre Fähigkeit, zu lernen, Vertrauen zu entwickeln und Beziehungen einzugehen. Sie haben häufig Ängste, Depressionen, Aggressionen und ein vermindertes Selbstwertgefühl zur Folge. Frühe Gewalterfahrungen führen im späteren Leben häufig zu Passivität, Alkoholmissbrauch, Drogenkonsum, sexuellem Risikoverhalten oder gar Selbstmord.