Wien, Genf, New York, 21. März 2000 - Ein Jahr nach Beginn des Kosovo-Krieges am 24. März zieht UNICEF eine kritische Bilanz: Die humanitäre Hilfe für Kinder und Jugendliche im Kosovo wird bis heute durch andauernde Instabilität und Konflikte zwischen den Volksgruppen erschwert. Zwar gehen heute mit Unterstützung von UNICEF fast alle Kinder wieder zur Schule. Aber vor dem Hintergrund des Terrors und der Vertreibungen der Vergangenheit ist ein gemeinsamer Schulbesuch von serbischen und albanischen Kindern nur in Ausnahmefällen möglich. Kindern ethnischer Minderheiten wie Serben, bosnischen Muslimen oder Roma wird immer wieder der Zugang zu Schulen und Gesundheitseinrichtungen erschwert oder ganz verwehrt. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen beobachten einen Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität sowie eine wachsende Zahl von Kindern, die auf der Straße ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Auch die militärischen Erblasten des Krieges bedrohen bis heute die Kinder. In den vergangenen neun Monaten wurden 113 Kinder und Jugendliche durch Minen oder Blindgänger getötet oder verletzt. Die Vereinten Nationen schätzen, daß es im Kosovo noch über 5.000 ungeräumte Minenfelder gibt.
Besorgt ist UNICEF auch über die Lage der Kinder in Serbien. Zwei Drittel der Bevölkerung lebt heute unterhalb der Armutsgrenze. Weil Brennstoff fehlt, bleiben Schulen zeitweise geschlossen. Über 200.000 Serben, Roma und Angehörige anderer Minderheiten flohen seit dem Ende des Krieges nach Serbien. Diese Familien leben bis heute unter extrem schwierigen Bedingungen.
Schule: ein Schlüssel zur Normalität
Terror, Krieg und Vertreibung sind die prägenden Erfahrungen der meisten Kinder im Kosovo. Tausende Kinder in den Flüchtlingscamps in Mazedonien und Albanien litten im vergangenen Jahr an posttraumatischen Streßsymptomen wie Angstzuständen, Albträumen und Konzentrationsschwierigkeiten. Heute hat sich die psychische Situation der Heranwachsenden in der Provinz etwas stabilisiert. Entscheidend hierfür war die rasche Wiederaufnahme des Schulbetriebs nach Kriegsende im Juni 1999. Mit Hilfe eines UNICEF-Notprogramms gehen seit November 97 Prozent der Kinder wieder zur Schule. Allerdings konnten erst gut ein Drittel der schwer beschädigten oder zerstörten Schulen wieder repariert oder aufgebaut werden. Vielerorts findet der Unterricht immer noch in Zelten statt. UNICEF hat dazu insgesamt 200 winterfeste Zelte, Öfen, Heizmaterial sowie Lampen bereitgestellt. UNICEF stellte auch 57.000 Pulte, 114.000 Stühle und 2.000 Wandtafeln für die Schulen im Kosovo zur Verfügung.
Eine verlorene Generation?
Aber nicht nur die materiellen Zerstörungen sind eine schwere Hypothek für die Zukunft. Über die Hälfte der Bevölkerung in der Provinz sind Kinder und Jugendliche. Sie wachsen in eine Gesellschaft hinein, in der die zivilen Normen und Regeln weitgehend zusammengebrochen sind. Jugendkriminalität und Drogenhandel haben drastisch zugenommen. Oft werden Heranwachsende auch von Verbrecherbanden für Hilfsdienste eingespannt oder sogar von Extremisten für Anschläge missbraucht. Wo Gewalt an der Tagesordnung ist und Intoleranz die Regel, ist es außerordentlich schwierig, unter Kindern und Jugendlichen Offenheit und Bereitschaft zur Versöhnung zu wecken. Viele Eltern sind nicht in der Lage, den Heranwachsenden Perspektiven zu vermitteln.
UNICEF unterstützt in Zusammenarbeit mit der UN-Verwaltung für das Kosovo (UNMIK) die Einführung neuer Unterrichtsmethoden sowie die Ausbildung von Lehrern und Sozialarbeitern. Diese werden z.B. trainiert, Anzeichen für Traumata bei Kindern zu erkennen und psychologische Hilfen anzubieten. UNICEF bereitet auch den Aufbau von speziellen Angeboten der Jugendarbeit für Risikogruppen wie Lese- und Rechtschreibtraining oder Computer - und Schreibmaschinenkurse vor. UNICEF setzt sich auch für den Aufbau einer Jugendgerichtsbarkeit ein. Denn bis heute werden Straftaten Heranwachsender entweder gar nicht verfolgt oder diese werden gemeinsam mit Erwachsenen eingesperrt. UNICEF unterstützt deshalb zum Beispiel das Training von Polizisten und von Gefängnispersonal.
Unzureichende Gesundheitsversorgung
Bis heute hat das Kosovo die höchste Kindersterblichkeit in Europa. Die medizinische Versorgung für Schwangere und Kleinkinder ist insbesondere auf dem Land völlig unzureichend. Es fehlt an Medikamenten, technischen Geräten und qualifiziertem Personal. Allein 240 Gesundheitsstationen wurden während des Krieges zerstört. UNICEF unterstützte den Wiederaufbau und Betrieb der Einrichtungen bisher mit 60 Tonnen Medikamenten, medizinischen Instrumenten und Verbandszeug. Der Impfschutz für Kinder ist besonders wichtig. Hierfür stellt UNICEF Spritzen und Impfstoffe bereit und organisiert den Aufbau einer Kühlkette. Mobile Gesundheitsteams wurden zusammengestellt, um in abgelegenen Dörfern die Kinder zu erreichen. Um die Betreuung schwangerer Frauen und Neugeborener zu verbessern, bildet UNICEF Ärzte und Krankenschwestern gezielt in der Geburtshilfe aus.
Die unsichtbare Gefahr: Minen und Blindgänger
Minen und Blindgänger sind bis heute eine tödliche Gefahr. Kinder können die Bedrohung oft nicht richtig erkennen. Sie halten z.B. Minen leicht für Spielzeug. Mit einer groß angelegten Aufklärungskampagne hat UNICEF nach Ende des Krieges die Bevölkerung gewarnt und die Entminung der Schulen und Gesundheitsstationen durch die KFOR-Soldaten vorangetrieben. Bis heute wurden über eine Million Flugblätter und Poster verteilt sowie Radio- und TV-Spots produziert. UNICEF hat dafür gesorgt, daß Aufklärung über die Minengefahr fester Bestandteil des Schulunterrichts ist - mit Erfolg: Immer mehr Kinder benachrichtigen KFOR-Soldaten über den Fund von Sprengkörpern. Da jedoch viele Minen noch nicht gefunden bzw. beseitigt wurden, sind Unfälle an der Tagesordnung. Drei Prozent des Kosovo gelten als vermint. Auch gibt es Hinweise, daß Extremisten neue Minen legen. UNICEF befürchtet, daß mit dem beginnenden Frühling die Zahl der Minenopfer wieder steigt, da die Kinder dann zumeist draußen spielen.