Jeden Tag kämpfte der 16-jährige Hamza Muhssen mit dem Straßenverkehr und den anderen Gleichaltrigen, die auch Zigaretten, Zeitungen, Räucherstäbchen, Kerzen und Taschentücher verkauften. Sie waren Teil einer Kinderarmee die in den Straßen von Bagdad arbeitete.
Die meisten von ihnen verbrachten die Nächte auf den Gehsteigen oder in verlassenen Häusern, nur wenige Meter vom geschäftigen Treiben des Zentrums der Stadt entfernt.
Früh am Morgen holten die Kinder ihre Waren von den Ladenbesitzern ab, um sie auf den Straßen zu verkaufen. Bei Einbruch der Dunkelheit kamen sie zurück, und wurden mit 1.000 Dinar (etwa 7 Schilling) für 12 Stunden Arbeit entlohnt. Die Ladenbesitzer behielten die Identitätskarten ihrer Verkäufer, damit die Kinder sie nicht betrügen konnten.
Laut Gesetz müssen alle Kinder im Iran bis zu ihrem 15. Geburtstag zur Schule gehen. Eltern, die ihre Kinder nicht zum Unterricht schicken und Erwachsene, die Kinder beschäftigen wurden früher zu hohen Geldstrafen oder sogar Haftstrafen verurteilt. Doch seit 1990 werden diese Gesetze nicht mehr angewendet. Vor kurzem hielt der Staat die Polizei und Sicherheitsbeamte zum scharfen Durchgreifen bei Straßenkindern an.
Vor einigen Monaten wurden hunderte Straßenkinder im Zuge einer Razzia festgenommen. Die Kinder wurden nur freigelassen, wenn sie von ihren Eltern abgeholt wurden. Hanza verbrachte einige Monate im Gefängnis bevor er vor zwei Monaten mit 45 anderen Kindern ins Dar al-Rahma (Haus der Barmherzigkeit) gebracht wurde. "Er war, wie die anderen auch, in einem schrecklichen Zustand. Bloßfüßig und in schäbigen Kleidern, waren er und die anderen aggressiv, feindselig und voller Läusen", sagt der Direktor von Dar al-Rahma, Hameed Jaber Abboud.
Das Al-Rahma-Zentrum selbst war ebenfalls vor einigen Monaten noch in einem traurigen Zustand. Das Zentrum, mit Aufenthaltsräumen, Schlafräumen, Gärten, einer Schule und einer Bibliothek bestand laut Abboud nur mehr aus Ruinen. Fußböden waren aufgebrochen, Mauern zersört, Fenster zerbrochen und mit Ziegel ausgefüllt. "Kurz gesagt, bevor wir hierherzogen, konnte man nicht einmal Tiere hier halten", erzählt Abboud. UNICEF finanzierte die Renovierung des Al-Rahma-Zentrums: elektrischer Strom und Wasser wurden eingeleitet, sanitären Anlagen eingebaut.
Auch Hamaz ist völlig verändert. In neuen Jeans und sauberem Hemd winkt er seinen Freunden zum Abschied. Er wurde von seinen Eltern und seiner Schwester abgeholt. Sein Abschied ist trotzdem eine traurige Angelegenheit. Die anderen Buben fragen, ob sie auch nach Hause gehen können. "Das ist auch eigentlich unser Ziel", sagt Abboud. "Aber das ist nicht so einfach, wie die Kinder glauben. Die meisten Kinder haben keine Papiere und "es ist extrem schwierig und manchmal unmöglich, ihre Familien zu finden", erzählt Zaynab Thamer Mohammed, ein Psychologe des Zentrums. "In manchen Fällen wäre es verantwortungslos, die Kinder zu ihren Familien zu lassen", fügt sie hinzu. Einige Mädchen haben ohne die Zustimmung der Eltern geheiratet und wurden von ihren Ehemännern bereits wieder verlassen. Sie würden getötet werden.
Huda Sulaiman (Name wurde geändert) war 14 Jahre alt, als sie eine Affäre mit einem jungen Mann hatte. Dann traute sie sich nicht mehr nach Hause zurück. Sie war schwanger, als sie auf der Straße aufgegriffen wurde. Jetzt liegt ein kleiner Bub neben Huda in einer hölzernen Wiege. Für das Baby und seine Mutter wird es fast unmöglich sein, sich wieder in die irakische Gesellschaft einzugliedern. Huda sagt, es ist zu gefährlich für sie und das Kind, Al-Rahma zu verlassen.
Jedes Kind in Al-Rahma hat seine eigene Geschichte. Miqdad Fadhil, 15, war Schuhputzer in Bagdad und schlief in einem Tunnel, als er mit anderen Kindern von der Polizei aufgegriffen wurde. Er verlor seine Uhr, sein Geld, seinen Ausweis und sein Schuhputzzeug, als er verhaftet wurde, Er sagt, seine Familie lebt im Süden, in Basra, aber er hätte keine Möglichkeit, sie zu kontaktieren.
Azad Abdulqader, 17, ist ein Kurde aus dem Nordirak. Er ist Analphabet und kann nicht beweisen, daß seine Familie in der kurdischen Provinz Dohouk lebt.
Halla Hassan (Name wurde geändert) sagt, sie wurde von ihrer Schwester beschuldigt, sexuelle Beziehungen zu einem Fremden gehabt zu haben. "Sie wollten mich töten, aber ich konnte fliehen. Ich fürchte mich davor, nach Hause zu gehen."
Dar al-Rhama wird 160 Kinder aufnehmen und betreuen können, wenn es fertig eingerichtet ist.
Die Einschulungsraten fielen von 98% im Jahre 1990 auf 70%. Fast die Hälfte aller Kinder, die eingeschult werden, brechen die Shcule frühzeitig ab. Niemand weiß, wieviel Straßenkinder heute im Irak leben. Jede Woche werden neue Kinder ins Zentrum gebracht, nachdem das Jugendgericht festgestellt hat, daß sie kein Verbrechen begangen haben, sondern niemanden und nichts haben - außer das Al-Rhama-Zentrum.