Gerechtigkeit für Kinder

Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, genießen häufig weniger Schutz und Rechtssicherheit als Erwachsene. Nur wenige Länder nehmen das Recht von Jugendlichen auf faire Behandlung durch das Justizsystem ernst. Und nur wenige Erwachsene sind sich bewußt, daß Jugendliche dieses Recht haben.

Jugendliche Straftäter werden oft in der gleichen Weise wie Erwachsene bestraft, manchmal sogar noch härter: In vielen Ländern kann ein Richter Kinder wegen "ungehörigen Verhaltens" inhaftieren lassen - das heißt, wenn sie schmutzig sind, auf der Straße schlafen, oder keinen Ausweis haben. Manchmal ist die Bestrafung unter einer wohltätigen Maske versteckt: Kinder kommen "zu ihrem eigenen Schutz" ins Gefängnis. In Indien zum Beispiel, kann die Polizei Kinder verhaften, wenn "es wahrscheinlich ist, daß sie für unmoralische oder illegale Zwecke mißbraucht oder ausgebeutet werden". Mit anderen Worten, jedes Kind, das in Armut lebt, kann ein Opfer des Justizsystems unter dem Deckmantel von Altruismus werden.

Manchmal werden Jugendliche im Gefängnis körperlich und sexuell mißbraucht und gefoltert. Wenn junge Menschen mit dem Gesetz in Konflikt kommen, brauchen sie Hilfe und nicht Vergeltung. Kinder haben ein Recht auf faire Behandlung, und im Gegenzug wird die Gesellschaft von dieser fairen Behandlung profitieren.

Weltweit sind Jugendliche momentan schweren Ungerechtigkeiten ausgesetzt:

In Jamaika werden bereits zehnjährige Kinder auf unbestimmte Zeit in feuchte Zellen gesperrt, oft gemeinsam mit Erwachsenen.

In Ägypten werden Kinderprostituierte nicht nur sexuell ausgebeutet, sondern werden auch als Kriminelle abgestempelt, und erleiden härtere Strafen als erwachsene Prostituierte.

In Ruanda sitzen Kinder unter 14 Jahren seit drei Jahren in Verbindung mit dem Völkermord 1994 im Gefängnis.

In Australien werden Kinder von Aborigines achtzehnmal häufiger eingesperrt als Kinder anderer Abstammung.

Im Sudan sind Kinder Bestrafungen wie Amputation, Prügel und Hinrichtung ausgesetzt.

In Kenia werden jede Woche 120 Straßenkinder angeklagt, weil sie kein zu Hause haben.

Der Großteil der nach israelischem Recht angeklagten Kinder im Gazastreifen hat kein Recht auf einen Anwalt.

In den Vereinigten Staaten wurden seit 1973 137 Jugendliche zum Tode verurteilt. Neun von ihnen wurden vor ihrem 18. Geburtstag hingerichtet.

In China ist zwar die Todesstrafe für Jugendliche unter 18 Jahren verboten, es können jedoch bereits 16-jährige zum Tode verurteilt werden - das Urteil wird nach dem 18. Geburtstag vollzogen.


Der Großteil der jugendlichen Straftäter hat geringfügige Delikte begangen, oder ist überhaupt unschuldig. Viele der inhaftierten Kinder wurden nie ihrer Verbrechen überführt - sie warten nur auf ihren Prozeß, manchmal jahrelang.


Die Wurzeln


Kinder werden nicht als Kriminelle geboren, sie werden dazu gemacht. Meist muß man bei den Kindern im Gefängnis oder in den Gerichtssälen nicht lange nachforschen, um den gemeinsamen Nenner herauszufinden: Armut. In den Entwicklungsländern treibt Armut viele Kinder auf die Straße, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Kinder hatten vielleicht nie die Möglichkeit eine Schule zu besuchen, viele von ihnen hungern. Kriege zwingen Kinder dazu, aus ihren Dörfern in die Städte zu fliehen, wo sie oft ohne Papiere und getrennt von ihren Familien ums Überleben kämpfen müssen. Bittere Armut und Not kann diese Kinder dazu bringen, Lebensmittel aus einem Geschäft zu stehlen, Taschendiebstähle zu verüben, oder das Einzige zu verkaufen, das sie besitzen - ihren Körper.

In den Industrieländern sind viele Jugendliche von Wohlstand umgeben, leben aber selbst in Armut. Viele Kinder wachsen in einer Umgebung auf, wo an jeder Straßenecke Drogenhändler zu finden sind, und viele haben keine positiven erwachsenen Vorbilder. Manche von ihnen können der Versuchung des "schnellen Geldes" durch Drogenhandel nicht widerstehen. Solche Kinder wurden von ihren Familien und Gesellschaften aufgegeben. Da die Kluft zwischen arm und reich immer größer wird, wird auch die Zahl dieser "aufgegebenen" Kinder in den nächsten Jahren größer werden.

Die Entscheidung eines Polizisten oder eines Richters kann ein Kind einem System ausliefern, das eigentlich für Erwachsene gemacht wurde. Kinder aus armen Familien können sich keinen adäquaten Rechtsbeistand leisten, während Kinder von Eltern mit guten sozialen Verbindungen oft gar nicht vor Gericht gestellt werden - auch wenn sie ein schweres Verbrechen verübt haben. Der erste Schritt um ein gerechtes Justizsystem für alle Jugendlichen zu garantieren, muß die Identifizierung derer sein, die soziale Betreuung brauchen. Diese Gruppe sollte getrennt behandelt werden, damit das Justizsystem für jene funktionieren kann, die wirklich schwere Verbrechen verübt haben.


Wann beginnt die Verantwortlichkeit?


Junge Menschen, die Straftaten begehen, müssen die Verantwortung dafür übernehmen. Dies muß jedoch auf eine Weise geschehen, die ihrer persönlichen Reife entspricht. Es gibt bis heute keine international verbindliche Praxis, ab welchem Alter Kinder und Jugendliche als strafmündig behandelt werden.

Die Unterschiede sind groß, und in vielen Fälle ist das Alter viel zu jung. Die Strafmündigkeit beginnt mit 7 Jahren zum Beispiel in Bangladesch, Indien, Irland, Jordanien, Liechtenstein, Myanmar, Nigeria, Pakistan, Südafrika, Sudan, Schweiz, Tansania und Thailand. Ein Kind, das gerade erst begonnen hat, die Grundschule zu besuchen, hat wohl kaum die Reife, die volle Tragweite seines Handelns abzuschätzen und zu verstehen.

Wenn so junge Kinder bereits dem Strafrecht ausgesetzt sind, ist es um so wichtiger, daß jedes Land ein humanes und konstruktives Jugendgerichtssystem einrichtet. Im Idealfall sollte so ein System als Sicherheitsnetz für Kinder dienen - statt jugendliche Straftäter wegzusperren, sollte man ihnen helfen, Verantwortungsgefühl für ihr Tun zu entwickeln. Gleichzeitig muß das Justizsystem natürlich die Gesellschaft vor potentiellen gefährlichen Verbrechern schützen. Doch man sollte auch bedenken, daß die meisten Jugendlichen nach einem Gefängnisaufenthalt nur schwer in die Gesellschaft zurückfinden.


Verhinderung von Verbrechen


Es ist in jedem Falle besser Verbrechen zu verhindern, statt sie zu bestrafen. Denn Straftaten, die von Kindern verübt werden, sind häufig ein Hilferuf. Die Richtlinien der Vereinten Nationen zur Verhinderung von Jugendkriminalität, die als "Riyadh Guidelines" bekannt sind, wollen die Brandmarkung junger Menschen durch das Justizsystem verhindern. Diese Richtlinien fordern Maßnahmen, die "verhindern sollen, daß ein Kind für Verhalten, daß weder seiner eigenen Entwicklung noch anderen Personen Schaden zufügt, zum Kriminellen abgestempelt und bestraft wird".
Verhinderung von Jugendkriminalität soll nicht nur die Gesellschaft schützen, sondern soll auch Kindern dabei helfen, ihre Fähigkeiten voll zu entwickeln. Es ist für jede Gesellschaft kostengünstiger und wirksamer, junge Menschen vor kriminellen Laufbahnen zu bewahren, als für die Folgen dieser Kriminalität zu bezahlen.

Weltweit wurden bereits einige Programme eingerichtet, um jungen Menschen diesbezüglich zu helfen:

In Kanada wird von Bewährungshelfern ein Projekt durchgeführt, das Jugendlichen helfen soll, ihr aggressives Verhalten einzuschränken, und Alternativen dafür zu finden.

In Holland fordert das Programm HALT junge Vandalen dazu auf, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen, jedoch ohne sie als Kriminelle abzustempeln.

In Marokko gibt es in vier Städten "Kinderclubs", die Spiel und kulturelle Aktivitäten für Stadtkinder zwischen 7 und 12 Jahren anbieten. Zusätzlich unterstützen diese Clubs Kinder dabei, ihre Schulbildung zu vollenden.

Auf den Philippinen wird in 32 Städten ein Programm durchgeführt, um Straßenkinder zu unterstützen und Jugendkriminalität zu verhindern.

In Belgien, Israel und Holland gibt es "Kinderrechte-Shops" wo Jugendliche Hilfe bei rechtlichen Problemen erhalten.

Jugendliche, die Verbrechen verübt haben, sollen dafür auch die Verantwortung übernehmen. Doch sie benötigen auch dringend Unterstützung bei ihrer Reintegration in die Gesellschaft. Schließlich handelt es sich bei diesen Jugendlichen um Menschen, die sich noch in der Entwicklung befinden. Die Gesellschaft sollte sie nicht einfach nur bestrafen, sondern sie auch für ihr späteres - erfolgreiches - Leben vorbereiten.


Wirkliche Gerechtigkeit für Jugendliche


Die Konvention über die Rechte des Kindes, die als Kinder alle Menschen bezeichnet, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, enthält Richtlinien zur Behandlung minderjähriger Straftäter.

Diese Richtlinien sehen vor, daß Kinder und Jugendliche bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld als unschuldig zu gelten haben. Sie haben das Recht auf ein unverzügliches und faires Verfahren durch eine Behörde oder ein Gericht, die unabhängig und unparteiisch sind. Kinder haben das Recht, in einer Weise behandelt zu werden, die ihre Würde bewahrt und die soziale Wiedereingliederung sowie die Übernahme einer konstruktiven Rolle in der Gesellschaft fördert. (siehe Artikel 40 )

Die Konvention fordert, daß kein Kind Folter oder einer anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen wird. Todesstrafe und lebenslange Freiheitsstrafen ohne Chance auf vorzeitige Entlassung sind ausgeschlossen. Gefängnisstrafen dürfen nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit angewendet werden. (siehe Artikel 37 )

Die Interessen des Kindes sollten das Kernstück jedes Jugendstrafrechts sein. Bei jungen Menschen, die eines Verbrechens für schuldig befunden wurden, sollte das Hauptaugenmerk nicht auf ihre Bestrafung, sondern auf ihre Reintegration gerichtet werden. Neben der

Konvention über die Rechte des Kindes und den

"Riyadh Guidelines" gibt es noch die

"UN Rules for the Protection of Juveniles Deprived of their Liberty" und die

"Standard Minimum Rules for the Administration of Juvenile Justice" (auch "Beijing Rules"). Die "Beijing Rules" sollen die Menschenrechte von Kindern, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, sicherstellen.

Reformen


Zahlreiche Staaten haben eine Reform ihres Kinder- und Jugendstrafrechts begonnen. Darunter sind viele lateinamerikanische Länder, wie Brasilien, Bolivien, Costa Rica, Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala und Peru. Chile, Kolumbien, Nicaragua und Paraguay ziehen solche Reformen in Erwägung.

Brasilien erließ ein spezielles Gesetz für Kinder und Jugendliche. Auslöser dafür waren die Gewaltakte gegenüber Straßenkindern.

Chile erließ 1994 eine Verordnung, welche die Inhaftierung von Jugendlichen gemeinsam mit Erwachsenen verbietet. 1996 hatte sich die Zahl der Jugendlichen in Gefängnissen für Erwachsenen bereits um die Hälfte verringert.

Costa Rica erließ 1996 eine Gesetzesreform: nur Jugendliche, die schwere Verbrechen verübt haben, erhalten Gefängnisstrafen, jene die geringfügige Delikte begangen haben, werden bei ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft unterstützt.

In Neuseeland wurde 1989 eine Verordnung erlassen, welche die speziellen Bedürfnisse junger Menschen berücksichtigt. Die Familien der jugendlichen Straftäter und spezielle Organisationen werden in den Justizprozeß miteinbezogen.

In Namibia ergab eine Untersuchung, daß 90 Prozent der verurteilten Kinder keinen legalen Rechtsbeistand hatten. Jene, die Haftstrafen verbüßen mußten, wurden in Gefängnisse für Erwachsene eingeliefert. Nun ist man bemüht, Jugendliche aus dem Justizsystem herauszuhalten. Sie müssen berufsbildende Kurse mit psychologischer Betreuung absolvieren. Jugendliche Strafgefangene werden in Namibia nun von Erwachsenen getrennt, und Polizeibeamte, Gefängnispersonal und Richter werden für den Umgang mit Jugendlichen speziell geschult.

In Tunesien wurde 1996 ein "Kinderschutz-Kodex" erlassen, der verlangt, daß alle Jugendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, das Recht auf Anhörung in Jugendgerichtshöfen vor speziell geschulten Jugendrichtern haben.

In Schottland haben minderjährige Straftäter unter 16 Jahren das Recht auf eine "Kinderanhörung", die nicht als Gericht angesehen wird und keine Strafen verhängen kann.

In Schweden können Kinder unter 15 Jahren nicht nach dem Strafgesetzbuch verurteilt werden. Haftstrafen für Kinder unter 18 Jahren sind nur in Ausnahmefällen erlaubt. Lebenslange Haftstrafen dürfen nicht für Personen unter 21 Jahren ausgesprochen werden.



Das Komitee für die Rechte des Kindes, daß die Umsetzung der Konvention in den Ländern beobachtet, drückte seine Besorgnis über den Vollzug des Jugendstrafrechts in vielen Ländern aus. Bei 37 von 51 untersuchten Ländern fordert das Komitee ausdrücklich eine Gesetzesreform.

Kinder haben das Recht auf eine faire Behandlung durch ein Justizsystem, das auf Rehabilitation ausgerichtet ist, und nicht auf Vergeltung.