In Chevella, einer Stadt in der Nähe von Hyderabat im Bundesstaat Andhra Pradesh, sitzen 55 Mädchen zwischen 9 und 15 Jahren mit überkreuzten Beinen am Boden des Klassenzimmers, völlig vertieft in ihre Aufgaben. Wenn der Lehrer etwas fragt, schießen die Hände hoch, und die Mädchen verkünden ihre Ideen und Meinungen. Die Leichtigkeit und das Selbstvertrauen, mit dem sie die Fragen beantworten, erwecken den Eindruck, als ob diese Kinder bereits jahrelang zur Schule gegangen wären. Doch nur wenige Monate vorher konnten die meisten dieser Mädchen weder lesen, schreiben noch rechnen. Anstatt zur Schule zu gehen, verbrachten viele ihre Kindheit damit, auf den Feldern oder in Fabriken zu arbeiten. Jetzt besuchen sie einen einjährigen Vorbereitungskurs für die "normale" Schule. Der Kurs umfaßt eine Intensivausbildung für 90 Mädchen zwischen 9 und 15 Jahren, die davor keine Schule besuchen konnten. Nach Abschluß des Kurses können sie in die 7. Schulstufe einer "normalen" Schule übertreten. Im Nachbardorf gibt es einen ähnlichen Kurs für 150 Buben.
Die 15-jährige Manju sitzt konzentriert über ihren Büchern. Ihre Zöpfe sind mit Blumen und Bändern geschmückt. Vor einem Jahr konnte Manju weder lesen noch schreiben. Ihr Arbeitstag begann um 5 Uhr morgens. Sie arbeitete als Blumenpflückerin und Feldarbeiterin. Nun ist ihr größter Wunsch in die "normale" Schule übertreten zu können. "Ich war immer eifersüchtig auf die Mädchen, die jeden Tag zur Schule gehen durften", sagt Manju. Doch es war nicht einfach für Manju, diesen Kurs besuchen zu dürfen. Ihre Eltern dachten zuerst, der Schulbesuch wäre Zeitverschwendung für ihre Tochter. Es ist schwierig in einem Land wie Indien die Eltern von der Wichtigkeit einer Schulbildung zu überzeugen, wenn viele Familien vom Einkommen ihrer Kinder abhängig sind. Viele Eltern lassen gerade ihre Töchter nur ungern zur Schule gehen, da die Mädchen oft schon mit 13 Jahren verheiratet werden, und von da an ihr Wissen, ihre Arbeitskraft und ihr Einkommen der Familien des Ehemannes zur Verfügung stehen.
Manju´s Entscheidung, mit dem Schulbesuch im bereits heiratsfähigen Alter zu beginnen, verärgerte ihren älteren Bruder, der oft seine Schwester und ihre Lehrer bedrohte. Aber Manju blieb bei ihrer Entscheidung. "Ich erkannte, daß die Schule der einzige Ausweg für mich ist", sagt Manju, die später einmal ein eigenes Geschäft haben möchte. "Ich möchte meinem Bruder und den anderen Erwachsenen im Dorf beweisen, daß sie unrecht haben, wenn sie sagen, daß ein so altes Mädchen wie ich nicht zur Schule gehen soll."
UNICEF finanziert einige Projekte dieser Art in Andrah Pradesh. In diesem Bundesstaat ist die Anzahl der Kinderarbeiter doppelt so hoch wie im restlichen Indien. Über 1,75 Millionen Kinder müssen arbeiten, um die Schulden ihrer Familien abzubezahlen. Ungefähr 13 Millionen Kinder in Andrah Pradesh gehen nicht zur Schule.