Es sind nur ein paar hundert Kinder, die als sogenannte "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" in Österreich Aufnahme suchen. Sie entfliehen Armut, Gewalt, aussichtslosen Lebenssituationen, die ihnen keine Perspektive, keine andere Wahl lassen. Sie wissen in vielen Fällen nichts von dem Land, in dem sie schließlich "stranden", im buchstäblichen Sinne des Wortes, denn viele dieser Kinder erfahren erst bei der Ersteinvernahme durch die Behörden, daß der Staat, der nun über ihr zukünftiges Schicksal bestimmt, Österreich heißt.
Und da ist Mißtrauen und Angst auf beiden Seiten. Furcht vor der Amtsgewalt auf Seiten der Jugendlichen, die mit Ämtern und Uniformen zumeist traumatische Erinnerungen verbinden. Mißtrauen seitens der Behörden, die zuerst die Frage zu prüfen haben, ob das Ersuchen um Aufnahme auch tatsächlich Berechtigung hat.
Mag. Heinz Fronek von der Österreichischen Asylkoordination hat mit der vorliegenden Studie zum ersten Mal umfassendes Datenmaterial zu diesem Thema zusammengetragen. Dabei ging es auch um die Frage, wie wir diesen Kindern und Jugendlichen begegnen, die unsere Hilfe suchen. Im Vordergrund aber stand die Frage, was getan werden muß und kann, um diesen Kindern und Jugendlichen das zu geben, was sie am dringendsten brauchen: soziale und psychische Stabilität.
Es geht dabei nicht um einen Appell, nicht um Akte freiwilliger Wohltat. Es geht um die Durchsetzung eines Rechtsanspruches auf völkerrechtsverbindliche Menschenrechte: um die Durchsetzung der Rechte von Kindern und Jugendlichen, für deren besonderen Schutz zusätzlich die "Konvention über die Rechte des Kindes" völkerrechtsverbindliche Gültigkeit hat.
In diesem Jahr "feiern" wir "50 Jahre Menschenrechte". Im kommenden Jahr "10 Jahre Konvention über die Rechte des Kindes". Die vorliegende Studie zeigt, welche Auswirkungen gesellschaftliches Handeln im Sinne oder gegen den Sinn dieses verbrieften "Menschenrechtes" für das Leben eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings bedeutet. Die Ergebnisse dieser Bestandsaufnahme werden für UNICEF Österreich Basis dafür sein, die konkreten Zielsetzungen der Asylkoordination Österreich zur Verwirklichung des Rechtsanspruches unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge auf ihre Rechte im Sinne der völkerrechtsverbindlichen Verträge zu unterstützen.
Besonderer Schutz für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF ) im Sinne der Konvention über die Rechte des Kindes
Kernstück für die Rechte eines Flüchtlingskindes ist Art. 22 der Konvention über die Rechte des Kindes, der auch jene Kinder mit einschließt, die den Flüchtlingsstatus anstreben.
Was nun die besondere Situation der UMF betrifft, sind es vor allem die nachfolgenden Bestimmungen der Konvention und internationalen Regelungen, die für die Implementierung der in Art. 22 enthaltenen Regelungen besondere zusätzliche Bedeutung haben:
* Artikel 39 (Genesung und soziale Wiedereingliederung von Kindern, die Opfer bewaffneter Konflikte, Folter und anderer Formen von Mißbrauch geworden sind) und
* Artikel 37 (Verbot der Folter oder unmenschlicher Behandlung, der Todesstrafe und lebenslanger Freiheitsstrafe: erkennt Freiheitsentziehung nur als allerletztes Mittel)
* Artikel 22 der Kinderrechtskonvention sollte auch in Zusammenhang mit den Richtlinien von UNHCR gesehen werden, vor allem mit Refugee Children - Guidelines on Protection and Care, UNHCR 1994, und weiters mit den Guidelines on Policies and Procedures in dealing with Unaccompanied Children Seeking Asylum, UNHCR 1997.
Die Grundprinzipien der Konvention über die Rechte des Kindes - das sind
* Das Prinzip der Gleichbehandlung (Art.2)
* Das Prinzip "Wohl des Kindes" (Art.3)
* Das Grundrecht auf Überleben und bestmögliche Entwicklung (Art.6)
* Die Achtung vor der Meinung des Kindes (Art.12)
haben Geltung für alle in der Konvention über die Rechte des Kindes enthaltenen Artikel. Die Bestimmung aus Art. 2 (1), daß die Vertragsstaaten die in der Konventionen festgehaltenen Rechte "jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehendem Kind ohne jede Diskriminierung" zu gewährleisten haben, sowie der der Konvention zugrunde liegende Ansatz, daß Kinder bis zum 18. Lebensjahr besonderen Schutzes durch die Gesellschaft bedürfen (Art. 1), muß als Basis für das Verständnis des Art. 22 - Recht eines Kindes auf der Flucht - herangezogen werden.
Ebenso gilt: alle in der Konvention über die Rechte des Kindes enthaltenen Rechte aus den drei großen Bereichen Protection, Partizipation, Provision den sogenannten "3 P's" dürfen nicht isoliert, sondern müssen eng miteinander verschränkt gesehen und gewährleistet werden. Alle in der Konvention enthaltenen Rechte haben ohne jede Diskriminierung jedem Kind garantiert zu werden.
Warum brauchen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge die besondere Hilfe unserer Gesellschaft - und vor allem, worauf beruht ihr Anspruch? Im Sinne der Konvention über die Rechte des Kindes (CRC) sind es viele Bereiche, die ganz konkreten Handlungsbedarf erfordern:
* UMF leben ohne Schutz durch ihre Familie. Im Sinne der CRC hat der Staat seine Versorgungsaufgaben für jene Kinder zu erfüllen, die außerhalb des Familienverbandes leben (Art. 20) und ihre Unterbringung zu überprüfen (Art. 25). In seiner "unspektakulären" Art enthält dieser Art. 25 eines der wichtigsten Rechte des Kindes. Er dient auch dazu, hohe Standards, Ziele und detaillierte Anweisungen für alle professionellen Berufsgruppen zu entwickeln, damit die Rechte der Kinder verwirklicht werden.
* UMF wollen einer Lebenssituation entfliehen, die für sie keine Perspektiven bietet. Sie fliehen vor Gewalt - nicht nur vor Gewaltsituationen wie Kriegen, sondern auch vor innerfamiliärer Gewalt. Sie entfliehen sozialer Armut und in vielen Fällen auch vor mit Armut verbundenen besonders schwierigen Lebenssituationen, wie kommerzielle sexuelle Ausbeutung. Im Sinne der CRC haben Kinder Anspruch auf besonderen Schutz vor allen Formen von Gewalt und Vernachlässigung - vor Gewalt innerhalb der Familie (Art. 19), vor wirtschaftlicher Ausbeutung (Art. 32), vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Mißbrauch (Art. 34) sowie vor allen anderen Formen der Ausbeutung. Diese Formen von Gewalt gegen das Kind sollten als Asylgrund anerkannt werden.
* UMF kommen in einem Zustand extremer psychischer Belastung in unser Land - belastet mit nur scheinbar "hinter sich gelassenenProblemen", belastet durch den Schock des Neuanfanges und der Erstbegegnung mit dem Asylland sowie mit seinen Behörden.
In diesem Sinne geht es darum, daß in Erfüllung des Geistes der Konvention vom ersten Tage an Art. 39 der Konvention über die Rechte des Kindes das Leitprinzip aller Maßnahmen ist:
Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um die physische und psychische Genesung und die soziale Wiedereingliederung eines Kindes zu fördern, das Opfer irgendeiner Form von Vernachlässigung, Ausbeutung oder Mißhandlung, Folter oder einer anderen Form grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe oder aber bewaffneter Konflikte geworden ist. Die Genesung und Wiedereingliederung müssen in einer Umgebung stattfinden, die der Gesundheit, der Selbstachtung und der Würde des Kindes förderlich ist.
* UMF haben in dieser Situation nur die Chance auf psychische und soziale Rehabilitation und Integration, wenn ihnen Schutz, Versorgung und Partizipation im Sinne der Menschen- und Kinderrechte gewährt wird. Das heißt, wenn ihre Grundrechte gesichert sind, wenn sie einen Rechtsanspruch haben auf Rechte wie
* Provision (Versorgung) - angemessene Ernährung und Unterbringung, Schule, Gesundheitsbetreuung, ...
* Partizipation - Anhörung und Berücksichtigung ihrer Meinung entsprechend dem Wohl des Kindes sowie Ermöglichung der "Partizipation" durch Information über Rechte, Abbau von Sprachbarrieren durch Dolmetscher etc., Schaffung kind- und jugendgerechter Situationen für Einvernahmen im Zuge asylrechtlicher Verfahren, die auf die besondere psychische Streßsituation der betroffenen UMF Rücksicht nehmen
* Protection (Schutz) - hier geht es neben der Garantie aller strafrechtlichen und strafprozessualen Konventionsbestimmungen auch um Maßnahmen, die die UMF vor allem Formen von Diskriminierung und allen Formen von Gewalt und Ausbeutung schützen
Es sind viele Detailfragen und -probleme, die im Zuge der vorliegenden Studie deutlich werden. Die wesentliche Forderung, die sich aus den vorliegenden Ergebnissen ergibt, ist die Forderung nach einem Gesamtkonzept für den Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Die Forderung nach einem Ansatz, der dem Konzept der Menschenrechte, dem Konzept der Konvention über die Rechte des Kindes entspricht. Ein Ansatz, der den Minderjährigen mit der Intention der Problembewältigung, und nicht mit der Intention der Abschiebung begegnet.
Der erste Schritt zu diesem Neuansatz ist eine "Clearingstelle", in der der UMF stabile Bedingungen findet. Es wird das gemeinsame Ziel von UNICEF Österreich und der Asylkoordination sein, in den kommenden 12 Monaten gemeinsam mit Praktikern und Experten involvierter NGOs und öffent- licher Institutionen ein Modell für diese Clearingstelle zu erarbeiten. Und wir werden am 20. September 1999 - dem nächsten Welttag des Kindes - einen Bericht darüber geben, was sich in diesen 12 Monaten an der Situation der UMF verbessert - oder auch nicht verbessert - hat.
Dr. Gudrun Berger
Generalsekretärin, UNICEF Österreich