Immer mehr Benachteiligungen für Frauen, warnt der Report
Genf, Wien, 22. September 1999 - Frauen in den ost- und zentraleuropäischen Ländern und in der ehemaligen Sowjetunion sind mit immer mehr Benachteiligungen konfrontiert, warnt ein neuer Report des UNICEF Innocenti Research Centre in Florenz, Italien.
Der Report zeigt zwar, daß der Kommunismus nicht fähig war, tatsächliche Gleichberechtigung zu fördern, anerkennt aber einige positive Auswirkungen des Systems für Frauen. Große Investitionen in grundlegende Sozialleistungen bewirkten ein hohes Bildungsniveau bei Frauen, einen guten Standard der Gesundheitsversorgung, Jobchancen für Frauen und ein staatliches Kinderbetreuungssystem, das es Frauen erlaubte, Geld zu verdienen und ihre Familien zu erhalten.
Diese Vorteile sind nun durch Armut, Arbeitslosigkeit und Kürzungen im Sozialbereich bedroht, warnt UNICEF. Die politische Umwandlung verstärkt vorhandene Benachteiligungen anstatt sie auszumerzen. Frauen in dieser Region sind mit höheren Arbeitslosenraten und niedrigeren Gehältern als Männer konfrontiert, mit Kürzungen im Bereich der Kinderbetreuung, mit zunehmender Gewalt und mit verschlechterter Gesundheit. Der Report verweist darauf, daß durch wiederhergestellte nationale Autonomie und wiederbelebte kulturelle Traditionen die prae-kommunistischen patriachalen Werte wieder zum Vorschein kommen und die Stimmen der Frauen eher unterdrücken als sie befreien.
Die im Report präsentierten Daten zeigen ein unterschiedliches Bild. Die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen wirken sich auf die 200 Millionen Frauen und Mädchen sowohl positiv als auch negativ aus. Trotz allem, eine Sache ist klar: fundamentale sexistische Werte herrschen vor. Der Umbruch enthüllte das Versäumnis des kommunistischen Systems, tatsächliche, dauerhafte Gleichberechtigung zu fördern.
Gewalt gegen Frauen, darunter auch Gewalt innerhalb der Familie, kam öfter vor, als früher angenommen wurde. Noch schlimmer, Gewalt gegen Frauen ist im Steigen begriffen.
Frauen in der Region haben wenig Chancen, familiärer Gewalt oder Mißbrauch am Arbeitsplatz zu entkommen. Die Wirtschaftskrise machte viele Frauen finanziell von ihren Partnern abhängig und verringerte ihre Jobaussichten. Unterkünfte für Opfer von Gewalt gibt es nur wenige. Diese sind meist so überbelegt, daß Frauen oft abgewiesen werden. Die Wohnungsnot ist mittlerweile so akut geworden, daß viele Paare nach der Scheidung weiterhin dieselbe Wohnung teilen.
Eine Untersuchung in Moskau ergab, daß ein Drittel der geschiedenen Frauen von ihren Männern geschlagen worden war. In Aserbaidschan sind 26 Prozent der Frauen Opfer von familiärer Gewalt und davon wird ein Viertel regelmäßig geschlagen.
Gewalt innerhalb der Familie ist in Armenien, Bulgarien oder Georgien gesetzlich nicht verboten. Vergewaltigung in der Ehe wird in Albanien, Kroatien, Mazedonien, Rumänien, Tadschikistan, Ukraine oder Jugoslawien nicht als Verbrechen anerkannt. In Aserbaidschan ist überhaupt keine Art des Mißbrauchs innerhalb der Ehe strafbar. In Slowenien ist familiäre Gewalt im Falle von "leichten" Verletzungen nicht strafbar - eine Definition, die gebrochene Nasen, Rippen, leichte Prellungen und ausgeschlagene Zähne beinhaltet.
Die wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen haben auch zu einem raschen Anstieg der Anzahl von Frauen in der Sexindustrie geführt. Es kam auch zu einer raschen Zunahme von Frauenhandel und Zwangsprostitution in Mittel- und Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion.
Aber die neu entstandenen Netzwerke, die nun in Folge des Umbruches entstanden sind, haben die Chance, das Schweigen rund um sexuelle Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen zu durchbrechen. Die Anzahl dieser Organisationen und Vereine steigt. Viele haben damit begonnen Hotlines, Krisenzentren, Unterkünfte und Rechtsberatungszentren einzurichten.
Der Report zeigt auch, daß Frauen unter der Doppelbelastung von Job und Kinderbetreuung litten, da Chancengleichheit am Arbeitsmarkt nie mit einer Teilung der Kinderbetreuung zwischen Mann und Frau verbunden war. Die Arbeitsbelastung von Frauen in Mittel- und Osteuropa betrug im Durchschnitt 70 Wochenstunden - etwa 15 Stunden mehr als von Frauen in Westeuropa. Dieser Trend hat sich während des Umbruches weiter fortgesetzt.
Die Frauen der Region waren zu Beginn des Umbruchs gesundheitlich in einer relativ guten Verfassung und hatten Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten. In den meisten Ländern der Region hat das Unvermögen der Regierungen, ausreichende Einkünfte zu erzielen, Opfer von den staatlichen Gesundheitsdiensten der kommunistischen Ära gefordert. Aber die größten Gefahren für die Gesundheit der Frauen entstehen als direkte Folge ihrer neuen Freiheit, sich risikoreicher verhalten zu können, und zum Beispiel Drogen zu konsumieren.
Bis vor kurzen konsumierten junge Mädchen in der Region weniger Alkohol und Tabak als ihre Altersgenossinnen in Westeuropa. Das wirkte sich positiv auf Gesundheitsprobleme wie Lungenkrebs aus. Seit Beginn des Umbruches verringert sich diese Kluft allerdings. Die WHO nimmt an, daß der erhöhte Tabakkonsum die größte Einzelursache für vermehrte Krankheiten und Todesfälle in der Region sein wird.
Der Anstieg der HIV-Infektionen ist ebenfalls bestürzend. Die Anzahl der gemeldeten Fälle in der Region stieg sprunghaft von etwa 30.000 im Jahre 1994 auf 270.000 Ende 1998. Allein im Jahre 1998 gab es etwa 80.000 neue Infektionen. Der größte Anstieg an Infektionen fand in Weißrußland, Moldau, Rußland und der Ukraine statt.
Im politischen Bereich wurde der Anschein von Gleichheit, den sich das kommunistische System gab, schnell entfernt. Im Jahre 1984 waren 31 Prozent der Parlamentarier Frauen. Diese Zahl legt nahe, daß Frauen sehr gut vertreten waren, wenn auch in einem Parlament, das keine wirkliche Macht hatte. Bei den Wahlen im Jahre 1989 wurden die Quoten teilweise aufgehoben und der Anteil der weiblichen Abgeordneten halbierte sich auf 16 Prozent. Heute liegt der durchschnittliche Wert bei weniger als 10 Prozent, die einzelnen Werte reichen von 1 Prozent (Kirgisistan) bis 18 Prozent (Turkmenistan).
Die Gleichberechtigung von Frauen muß auf der politischen Agenda ganz oben stehen, fordert UNICEF. Denn wenn diese Gelegenheit verpasst wird, dann werden die Vorteile, die Frauen im kommunistischen System hatten, vernichtet sein, bevor das Fundament für eine Umgebung gelegt ist, in der Männer und Frauen gleichberechtigt von der Freiheit profitieren können, die mit dem Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft verbunden ist. Die Diskriminierung von Frauen verhindert den Fortschritt der Nationen sowie den Fortschritt für Mädchen, Frauen und ihre Familien.
UNICEF untersucht seit 1992 regelmäßig die Auswirkungen der wirtschaftlichen Übergangsphase auf Kinder. Der neueste Report "Woman in Transition" beinhaltet die erste umfassende Untersuchung über die Situation von Frauen in 27 Ländern in Mittel- und Osteuropa sowie der ehemaligen Sowjetunion seit dem Fall der Berliner Mauer 1989. Der Report wird am 20. Jahrestag der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vorgestellt. Die Konvention wurde von allen 27 Ländern in der Region ratifiziert.