Zugang von Kindern zu Schulbildung gefährdet

UNICEF-Osteuropa-Report 1998: Die Bildungsmisere in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion

Für viele der rund 115 Millionen Kinder in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion haben sich die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten seit 1989 drastisch verschlechtert. Besonders schwierig ist die Situation im Kaukasus und den zentralasiatischen Republiken. Dort wird heute jedes siebte Kind gar nicht mehr eingeschult. Die öffentlichen Ausgaben für Erziehung und Bildung sind in fast allen Ländern deutlich gesunken. Von der Bildungsmisere besonders betroffen sind Kinder aus armen Familien und aus ethnischen Minderheiten sowie Flüchtlingskinder. Viele behinderte Kinder sind nach wie vor von schulischer Bildung ausgeschlossen. Bedrückend ist die Lage der Heimkinder - mittlerweile befinden sich etwa eine Million Kinder in Institutionen. Ihre Zahl ist trotz sinkender Geburtenraten kontinuierlich gestiegen. Der UNICEF-Osteuropa-Report 1998 untersucht die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in 27 Ländern Mittel- und Osteuropas sowie der ehemaligen Sowjetunion.

* In Rußland mit seinen 38 Millionen Kindern und Jugendlichen sanken die Ausgaben für Erziehung und Bildung seit 1989 um nahezu ein Drittel. In Georgien stand 1996 nur noch ein Zehntel des Betrages von 1989 für Schulen und Kindergärten zur Verfügung.
* Rund 32.000 Kindergärten in der Region wurden seit Anfang der 90er Jahre geschlossen. Folge ist, daß viele Kinder keine vorschulische Förderung und auch keine regelmäßige Gesundheitsvorsorge mehr erhalten.
* In den meisten Ländern der ehemaligen Sowjetunion gehen heute weniger Heranwachsende in weiterführende Schulen oder Berufsschulen. In Rumänien geht jedes fünfte Kind aus einkommensschwachen Familien nicht in die Grundschule.
* Auch wo die ehemals hohen Einschulungsraten gehalten werden konnten, ging die wirtschaftliche Krise nicht an den Schulen vorbei. Schlecht ausgebildete und unregelmäßig bezahlte Lehrer, zerfallene Gebäude und unzureichende Lernmaterialien prägen vielerorts den Schulalltag. Häufig müssen Lehrer bis zu neun Monate auf ihr Gehalt warten. Viele haben sich deshalb zusätzliche Jobs gesucht.
* Schulbücher und Lernmaterialien sind Mangelware. Im Schuljahr 1996 standen in Rußland nur die Hälfte der rund 100 Millionen benötigten Schulbücher für den Grundschulunterricht zur Verfügung.
* Gleichzeitig sind die Kosten für Erziehung und Bildung überall deutlich gestiegen. Viele arme Familien können sich Schulgebühren, Nachhilfeunterricht, Mahlzeiten, Schulbücher, Fahrtkosten und Schulkleidung nicht mehr leisten.

1. Die Krise der Bildungssysteme

Sinkende Bildungsausgaben

In der Vergangenheit gaben die kommunistischen Länder vergleichsweise viel Geld für ihr Bildungssystem aus. Und noch 1993 lagen in den meisten Ländern die Staatsausgaben für Bildung gemessen am Bruttosozialprodukt höher als in den westlichen Industrieländern. Nur Litauen, Rußland, Rumänien und Georgien lagen unter dem westlichen Mittel von 5,1 Prozent des Bruttosozialprodukts. In den vergangenen Jahren haben sich die Prioritäten in einigen Ländern jedoch verändert. In Georgien, Armenien, Kirgisistan, Aserbaidschan und Rußland wurden die Ausgaben für Bildung stärker gekürzt als das Bruttosozialprodukt gesunken ist. In den übrigen Ländern wurde der Anteil der öffentlichen Ausgaben für Bildung nicht verändert. Da aber das Gesamtbudget aufgrund fehlender Wirtschaftskraft sehr viel niedriger ist, haben sich in vielen Ländern auch die absoluten Ausgaben für Bildung reduziert. In Kirgisistan, Bulgarien und Aserbaidschan sanken diese Ausgaben um mehr als drei Viertel.

Hinzu kommt in vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion, daß ehemals staatliche Unternehmen ihre Unterstützung für Bildungseinrichtungen eingestellt haben. Vor dem Umbruch und der wirtschaftlichen Krise war es üblich, daß diese bei Bauvorhaben, Reparaturarbeiten und der Ausstattung von Schulen und Kindergärten in ihrer Umgebung halfen.


Bildung im Zeitalter des Kommunismus: Mythos und Realität

Vor dem politischen Umbruch 1989 galt das Bildungssystem in den Staaten Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion im internationalen Vergleich als vorbildlich. Es wurden mehr Kinder eingeschult als in vielen Staaten mit ähnlicher Wirtschaftskraft. Schüler aus der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rußland gewannen internationale Wettbewerbe in Mathematik und Naturwissenschaften. Diese überdurchschnittlichen Ergebnisse verstellen jedoch den Blick dafür, daß die Bildungschancen in der Region nicht für jedes Kind gleich waren. Denn die akademischen Olympiaden wurden von ausgewählten Kindern gewonnen, die in speziellen Kadern auf die Wettkämpfe vorbereitet wurden. Die Förderung von Kindern aus einfachen Familien war zwar erklärtes politisches Ziel. Doch war der Zugang zu weiterführender Bildung für die gesellschaftlichen und politischen Eliten wesentlich leichter. Kinder aus ethnischen Minderheiten oder behinderte Kinder wurden häufig nicht in die Schule integriert.

Weiters gab es einen großen qualitativen Unterschied zwischen Schulen auf dem Land und in der Stadt. In den ländlichen Gebieten fehlten beispielsweise Lehrer. In jeder vierten Schule Georgiens mußten deshalb die Kinder in zwei Schichten unterrichtet werden. Viele Fächer konnten nicht gelehrt werden, da es kein qualifiziertes Personal gab. Die Ausstattungen der Schulen war häufig unzureichend.

Außerdem konzentrierte sich der Unterricht im Vergleich zum westlichen Standard auf das Auswendiglernen von Fakten. Es wurde wenig Wert auf das selbständige Erarbeiten neuer Themen gelegt. Die Lehrmethoden waren in der Regel autoritär und ließen wenig Raum, für eine eigene Meinung.


Schlechte Qualität des Unterrichts

Seit 1989 hat sich in vielen Ländern der Region die Qualität des Unterrichts merklich verschlechtert. Fehlendes oder mangelhaftes Lehrmaterial sowie demotivierte Lehrer sind die Gründe dafür. Während der Zeit des Umbruchs sank das Gehalt der Lehrer in den ehemaligen Sowjetrepubliken extrem, in Georgien beispielsweise auf ein Drittel des offiziellen Existenzminimums. Viele Lehrer müssen zusätzlich im informellen Sektor arbeiten, um sich und ihre Familie zu ernähren. Deshalb können sie sich oft nicht auf den Unterricht vorbereiten. Viele Lehrer wechseln zu Privatschulen oder wandern in andere Berufssparten ab. Insbesondere Sprachlehrer finden in internationalen Firmen besser bezahlte Arbeit.
Ein weiteres Problem ist das Stadt-Land Gefälle. So kamen fast alle Schüler, die 1997 in der Republik Moldau die Schule abgebrochen haben, aus ländlichen Gebieten. Die Verschlechterung des Unterrichts an staatlichen Schulen führt dazu, daß immer mehr Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder von privaten Lehrern unterrichten lassen.

Verfall der Schulgebäude

In vielen Ländern Osteuropas und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion befinden sich die Schulgebäude in einem desolaten Zustand. In Rumänien beispielsweise wurden 1995 200 Schulgebäude wegen baulicher Mängel geschlossen. Nach einer Untersuchung des Bildungsministeriums müssen mehr als 1100 Schulen von Grund auf saniert werden. In Georgien wurden im Winter 1993 wegen Energiemangels alle Schulen geschlossen. Die Klassenräume konnten nicht beheizt werden.

Ein Schüler der achten Klasse in Karelien (Rußland) beschrieb im Mai 1997 in der Tageszeitung "Gaseta Uchitelskaja" die Situation an den Schulen so: "Unsere Eltern haben seit einem halben Jahr weder ihren Lohn noch das Kindergeld bekommen. Unsere Lehrer streiken, deswegen haben wir auch kaum noch Schule. Unser Schulgebäude ist in einem schlechten Zustand. Es gibt nicht einmal Farbe, um es zu streichen. Das Dach ist undicht. Von Jahr zu Jahr wird es schlimmer." In Saljan, einer Stadt in Aserbaidschan wurden 1996 mit UNICEF-Hilfe Schulgebäude saniert. Im folgenden Schuljahr stieg die Einschulungsrate von 52 auf 78 Prozent.

Positive Entwicklungen seit 1989

Der politische Umbruch seit 1989 hat in einigen Ländern auch positive Veränderungen ermöglicht. In Tschechien, Ungarn, Polen, der Slowakei, Rumänien und den baltischen Staaten beispielsweise gehen heute deutlich mehr Kinder in weiterführende Schulen und Universitäten. In Rumänien, wo die akademische Bildung während des Ceausescu-Regimes sehr beschränkt worden war, besuchen heute viermal soviel Kinder eine weiterführende Schule wie 1989. In diesen Ländern hat sich auch die Fächervielfalt erhöht, insbesondere im Bereich der Sprachen. Damit wird eine Qualifizierung der Jugendlichen auf dem internationalen Markt erheblich verbessert. Positiv zu vermerken ist auch, daß sechs Staaten, darunter Litauen und Lettland, ihre Bildungsbugdets gemessen am Bruttosozialprodukt um bis zu einem Viertel angehoben haben. Doch diese positiven Trends sind im wesentlichen auf die Staaten Mitteleuropas beschränkt. Die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen werden in Richtung Osten immer schlechter.


2. Benachteiligte Kinder

Vier Gruppen von Kindern sind von der Bildungsmisere besonders betroffen:
* Kinder armer Eltern,
* behinderte Kinder und Heimkinder,
* Kinder aus ethnischen Minderheiten und
* Flüchtlingskinder.

Armut verschlechtert Bildungschancen

Der Umbruch im ehemaligen Ostblock hat die Menschen dieser Länder in Gewinner und Verlierer geteilt. Während sich in einigen wirtschaftlich erfolgreichen Ländern Mitteleuropas langsam eine schmale Mittelschicht herausbildet, lebt die Masse der Bevölkerung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion unter schwierigen Bedingungen. In 13 von 26 Staaten der Region - darunter auch Rußland - liegt das Bruttosozialprodukt immer noch 40 Prozent unter dem von 1989. Insbesondere in Armenien, der Ukraine, Tadschikistan, Georgien und der Republik Moldau sind die volkswirtschaftlichen Daten alarmierend.

Drastisch gesunkenen Reallöhnen stehen gestiegene Kosten für Erziehung und Bildung gegenüber. Für einen Kindergartenplatz müssen Eltern in Tschechien und der Ukraine zwischen acht und zehn Prozent des Durchschnittseinkommens ausgeben. In Litauen sind es sogar 14 Prozent. Schulbusfahrten, Mahlzeiten, Schulbücher, Freizeitangebote und Kurse werden nicht mehr subventioniert und müssen von den Eltern voll selbst finanziert werden. Lehrer bieten häufig zusätzliche Stunden gegen Bezahlung an. Der Anteil der Kinder aus ärmeren Bevölkerungsgruppen in weiterführenden Schulen sinkt vor diesem Hintergrund ständig. In Rußland ist der Anteil von Schülern aus armen Familien in weiterführenden Schulen um ein Drittel niedriger als der ihrer wohlhabenderen Altersgenossen. Ähnliche Zahlen liegen für Tschechien, Polen und die Slowakei vor. Eine Studie in Aserbaidschan ergab, daß in den südlichen Landesteilen 40 Prozent der Kinder aus armen Familien gar nicht am Unterricht teilnehmen, obwohl sie angemeldet sind. Bildung droht vor diesem Hintergrund zu einem Privileg für Bessergestellte zu werden.


Behinderte Kinder und Heimkinder im Abseits

Zu Sowjetzeiten hatten es die Gesetze Eltern leicht gemacht, schwierige Kinder in staatliche Obhut abzugeben. Noch heute leben rund eine Million Kinder in Waisenhäusern, Erziehungsheimen und Behindertenheimen der Region - unter oft bedrückenden Bedingungen. Unter ihnen befinden sich auch zahlreiche "Sozialwaisen", die von ihren Eltern mißhandelt, verlassen oder vernachlässigt wurden. Besorgniserregend ist, daß diese Zahl trotz sinkender Geburtenraten weiter ansteigt. Ein Anzeichen dafür, daß immer mehr Eltern nicht in der Lage sind, der Verantwortung für ihre Kinder gerecht zu werden.

In der Vergangenheit spielte die Frage der sozialen Integration behinderter Kinder kaum eine Rolle. Diese wurden als "Mängelwesen" fast ausschließlich von ihren medizinisch diagnostizierten "Defekten" her betrachtet. Vielfach wurden sie als "nicht bildungsfähig" angesehen und gar nicht in öffentliche Schulen aufgenommen.

Vor diesem Hintergrund muß es als Fortschritt angesehen werden, daß heute deutlich mehr Kinder als "besonders förderungsbedürftig" eingestuft werden. So stieg deren Zahl in Rußland zwischen 1990 und 1995 von 150.000 auf 445.000. Den größten Zuwachs gab es allerdings bei Kindern, die besondere psychologische Betreuung brauchen. Für Kinder mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen sieht die Lage dagegen nach wie vor sehr schlecht aus: Eine Untersuchung ergab, daß zum Beispiel in Rußland nur ein Drittel der Kinder mit cerebraler Kinderlähmung ("Spastiker") überhaupt zur Schule geht. Auch fehlt es vielerorts noch an Wissen und Erfahrung über Fördermöglichkeiten.

In einigen Ländern wie Slowenien, Litauen oder Tschechien gibt es erfolgreiche Bemühungen, behinderte Kinder in die Regelschulen zu integrieren. Demgegenüber ist in der Republik Moldau und in Kirgisistan die Förderung dieser Kinder weitgehend zusammengebrochen.

Kinder aus ethnischen Minderheiten ausgegrenzt

Die Bevölkerung der Länder Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion ist von ihren ethnischen Wurzeln, ihrer Religion und Sprache her sehr unterschiedlich zusammengesetzt. In praktisch allen Staaten gibt es starke Minderheiten. Ethnische Auseinandersetzungen spielten seit 1989 eine zentrale Rolle in Bürgerkriegen in Bosnien, Kroatien, Berg-Karabach, Aserbaidschan, Abchasien, Georgien, Tschetschenien und Tadschikistan.

Romakinder: Kinder aus ethnischen Minderheiten waren schon in der Vergangenheit in ihren Bildungschancen benachteiligt. Dies gilt insbesondere für Romakinder in den Ländern der Region. In Bulgarien gingen zum Beispiel 1995 nur zwölf Prozent der Romakinder in eine Vorschuleinrichtung - gegenüber 70 Prozent der Kinder aus der übrigen Bevölkerung. Eine Studie in Rumänien ergab 1992, daß nur die Hälfte der Kinder aus Romafamilien überhaupt eine Schule besuchte. Jede dritte Mutter und jeder fünfte Vater konnte nicht lesen und schreiben. Untersuchungen in Ungarn ergaben, daß 80 Prozent der Kinder aus ethnischen Minderheiten lediglich einen Grundschulabschluß haben.

Kosovo-Albaner: Die Bevölkerung des Kosovo besteht zu 90 Prozent aus Albanern. Von 1974 bis 1989 war der Kosovo eine halbautonome Provinz der Republik Jugoslawien. Die Zentralregierung in Belgrad unter Slobodan Milosevic hat diesen Status Ende der achtziger Jahre aufgehoben. Als Reaktion auf die wachsende Unterdrückung ihrer Sprache und Kultur boykottieren die Albaner seit Anfang der neunziger Jahre das offizielle Schulsystem. Ein autonomes "Parallelsystem" wurde aufgebaut. Rund 300.000 Schüler gehen nun in mehr oder weniger improvisierte Schulen. Über deren Ausstattung und Qualität gibt es keine offiziellen Daten. Vielerorts findet der Unterricht in Privatwohnungen statt. Schulbücher oder Heizmaterial gibt es kaum und die Lehrer sind unzureichend auf ihre Aufgaben vorbereitet. Die Abschlüsse diese Schulen sind offiziell nicht anerkannt.

Der Kosovo gehört zu den ärmsten Regionen Mitteleuropas. Nur ein Drittel der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Verbreitung von Durchfallerkrankungen, Tuberkulose und Atemwegsinfektionen unter Kindern s