AIDS-Gefahr in Europa unterschätzt

Explosion bei Neuinfektionen in Osteuropa - Gleichgültigkeit im Westen

AIDS ist in Osteuropa nach Einschätzung von UNICEF Gesundheitsrisiko Nr. 1 für junge Menschen. Doch durch Menschenhandel und Prostitution gelangt das Virus auch verstärkt nach Westeuropa. Anlässlich der am Montag in Dublin beginnenden internationalen Konferenz zu AIDS in Europa und Zentralasien warnt UNICEF davor, die AIDS Gefahr zu unterschätzen. In Osteuropa und den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion infizierten sich allein im vergangenen Jahr 230.000 junge Menschen neu mit HIV, 80 Prozent davon waren unter 30 Jahre alt. Hauptübertragungswege waren verseuchte Injektionsnadeln und ungeschützter Geschlechtsverkehr. In den Staaten Osteuropas und Zentralasiens breitet sich das HI-Virus schneller aus als irgendwo sonst auf der Welt. In Westeuropa sind die Ansteckungsraten zwar bisher deutlich niedriger. Doch beobachten Experten eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der AIDS-Gefahr und die Tendenz zu einem riskanten Sexualverhalten unter jungen Menschen.

Bei der Konferenz in Dublin treffen zum ersten Mal die Gesundheitsminister der EU-Staaten, aus Osteuropa und den Staaten der früheren Sowjetunion zusammen, um über Wege zur Eindämmung der AIDS-Gefahr zu beraten. Die Regierungen dürfen die Bedrohung nicht unterschätzen. Ohne massive Aufklärungskampagnen wird Osteuropa von der Seuche überrollt. Jugendliche sind die ersten Opfer, weil sie nicht wissen, wie sie sich schützen können.

Erst Mitte der neunziger Jahre wurden in der Ukraine die ersten HIV-Infektionen entdeckt. Heute leben in Osteuropa und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bereits mehr als 1,5 Millionen Menschen mit dem AIDS-Erreger. Befragungen von UNICEF haben ergeben, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen in Osteuropa nach eigener Einschätzung wenig oder gar nichts über AIDS weiß. Die Folge: Jugendliche machen ihre ersten sexuellen Erfahrungen meist ungeschützt. Gleichzeitig werden sie in immer jüngerem Alter sexuell aktiv. Sexualaufklärung findet kaum statt, es fehlt an Beratungsstellen und Jugendliche wissen nicht, wie sie an Kondome kommen können. HIV-Tests sind meist ebenso außer Reichweite wie die medizinische Behandlung von weit verbreiteten sexuell übertragbaren Krankheiten wie Syphilis, durch die sich das Risiko einer HIV-Infektion noch erhöht.

Harte Drogen: Ein Prozent der Bevölkerung in Osteuropa ist abhängig
Hauptursache für die dramatisch steigenden Neuinfektionen in der Region ist der Missbrauch harter Drogen, der seit Mitte der neunziger Jahre epidemische Ausmaße angenommen hat. Mittlerweile ist fast ein Prozent der osteuropäischen Bevölkerung von harten Drogen wie Heroin abhängig. Die meisten Süchtigen sind jung, schätzungsweise jeder vierte von ihnen ist sogar unter 20 Jahre alt. Vor allem unter abhängigen Teenagern explodiert die Zahl der Neuinfektionen. Sie stecken sich meist durch verseuchte Injektionsnadeln an, weil sie das Spritzbesteck mit anderen Abhängigen teilen. Häufig finanzieren sie die Drogen durch Prostitution und geben so das Virus an ihre Kunden weiter. Dies ist der Punkt, an dem die Immunschwächekrankheit von der Subkultur der Drogensüchtigen auf die normale Bevölkerung überspringt.

Mehr als 11.000 Kinder wurden mit dem Virus geboren
Noch ist die Mehrheit der HIV-Infizierten in Osteuropa männlich, denn Mädchen und Frauen nehmen seltener harte Drogen als Männer. Doch die Zahl der infizierten Mädchen und Frauen wächst rapide. In Russland stieg ihr Anteil an den Neuinfektionen von 24 Prozent im Jahr 2001 auf 33 Prozent in 2002. Dies zeigt an, dass ein neues Stadium der Epidemie begonnen hat, in dem sich das Virus zunehmend durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr ausbreitet. Die Folge: Immer mehr Neugeborene kommen HIV-infiziert zur Welt. Experten beschreiben ein typisches Szenario so: Ein HIV-positives Mädchen wird schwanger, hat keinen Kontakt mit Gesundheitseinrichtungen und bekommt keinerlei medizinische Fürsorge bis zum Tag der Entbindung. Ihr Kind bekommt die Jugendliche im Krankenhaus, das sie so schnell wie möglich wieder verlässt - ohne ihr Baby. Das Kind bleibt in der Klinik zurück und wächst in überfüllten Krankenstationen auf. Seit 1999 wurden mehr als 11.000 Kinder in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion mit dem HI-Virus geboren.

Prostitution und Menschenhandel beschleunigen die Ausbreitung nach Westen
Arbeitslosigkeit und wachsende Armut sind Auslöser für ein weiteres beunruhigendes Phänomen in der Region: Vor allem Mädchen und junge Frauen, aber auch männliche Jugendliche aus armen Familien werden von Menschenhändlern in die Prostitution verkauft. Sie sind besonders gefährdet, angesteckt zu werden - und sie geben das Virus an ihre Kunden weiter. Oft werden die Opfer von ihren Zuhältern mehrfach weiterverkauft - fast immer in Richtung Westen, dorthin, wo die Kunden zahlungskräftiger sind. Seuchenexperten befürchten, dass dadurch auch die Infektionen durch heterosexuelle Übertragung steigen könnten.

UNICEF fordert von den Regierungen:


  • massive Aufklärungskampagnen, damit endlich alle jungen Menschen die notwendigen Informationen, Kenntnisse und Fähigkeiten erhalten, um sich vor AIDS zu schützen. Wichtig für den Erfolg dieser Kampagnen ist, dass die Jugendlichen selbst aktiv mitwirken können, dass sie der Ausgrenzung von HIV-Infizierten entgegenwirken und dass es dabei keine Tabus gibt.
  • Gezielte Unterstützung für besonders gefährdete Jugendliche: Drogenabhängige, Prostituierte, Straßenkinder und Gefängnisinsassen brauchen spezielle Hilfsangebote. Erfahrungen in den USA, Kanada, Australien und Westeuropa haben gezeigt, dass gute Präventionsarbeit auch bei diesen Hochrisikogruppen enorm viel bewirken kann.

  • Bessere Angebote zur Vorbeugung und Gesundheitsversorgung: kostenlose AIDS-Tests, Programme zur Verhinderung der Mutter-Kind-Übertragung, Informationen und Zugang zu Kondomen, saubere Injektionsnadeln für Drogenabhängige, Drogenersatzprogramme und die medizinische Behandlung von Geschlechtskrankheiten.