Hohe Kindersterblichkeit verschwiegen

UNICEF-Report zur Lage der Kinder in Osteuropa und Zentralasien

Die Kindersterblichkeit in neun Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion ist deutlich höher als offizielle Regierungsstatistiken zugeben. Dies ist das Ergebnis des neuen UNICEF-Reports über die Lage der Kinder in 27 Staaten Osteuropas und Zentralasiens. Systematische Befragungen in Gesundheitseinrichtungen und Familien ergaben, dass in einigen Ländern die tatsächliche Zahl der Todesfälle bei Neugeborenen viermal höher ist als offiziell angegeben. In Aserbaidschan beispielsweise überleben danach 74 von 1.000 Kindern das erste Lebensjahr nicht. Die offiziellen Statistiken nennen jedoch nur 17 Todesfälle pro Tausend Geburten.

Besonders schlecht sind die Überlebenschancen von Säuglingen in den Ländern des Kaukasus und in Zentralasien. So reicht die Sterblichkeit im ersten Lebensjahr von 36 pro Tausend Geburten in Armenien bis zu 89 pro Tausend in Tadschikistan. Sie ist damit fünfmal so hoch wie in den mittel- und osteuropäischen Staaten und zwölfmal so hoch wie in Westeuropa. Die meisten dieser Todesfälle sind nach Einschätzung von UNICEF vermeidbar. Sie sind zurückzuführen auf Armut, schlechte Ernährung, fehlende Vorsorge während der Schwangerschaft, Infektionskrankheiten sowie unzureichende medizinische Versorgung.

“Unsere Nachforschungen und Interviews mit Müttern zeigen, dass Kindersterblichkeit in der Region ein weit größeres Problem darstellt als offizielle Statistiken nahe legen, kommentiert UNICEF-Direktorin Carol Bellamy die Ergebnisse. “Sie haben eine Überlebenskrise der Kinder aufgedeckt. Schlechte Statistiken verschleiern die tatsächlichen Risiken für Kinder und die Notwendigkeit zu handeln."

Die UNICEF-Studie konzentriert sich besonders auf die Überlebenschancen der Kinder in acht Staaten Zentralasiens und der Kaukasusregion (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan) sowie in Rumänien und der Ukraine. Sie vergleicht die offiziellen Regierungsdaten mit den Ergebnissen repräsentativer Umfragen unter Müttern und in Gesundheitseinrichtungen. Danach liegt die Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen in neun dieser zehn Länder deutlich höher als die offiziellen Statistiken angeben. Die Gründe dafür sind vielfältig:

In einigen Ländern wird - wie zu Sowjetzeiten - die offizielle Statistik bewusst geschönt. Traditionell hatten Krankenhäuser und Gesundheitspersonal mit Strafen zu rechnen, wenn sie steigende Todesraten meldeten. Um die offizielle Sterblichkeitsrate nach unten zu drücken, werden bis heute gestorbene Kinder häufig als Fehl- oder Totgeburten gezählt.

Viele Todesfälle, so die UNICEF-Studie, werden auch nicht registriert, da die Kinder "offiziell" nie als "lebend" angesehen werden. Nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation gilt ein Neugeborenes als "lebend", wenn es atmet oder andere Lebenszeichen wie Muskelbewegungen und Herzschlag zeigt. In der Sowjetära war jedoch das ausschließliche Kriterium die Atmung. Auch wurden Todesfälle von Frühgeburten in den ersten sieben Tagen nicht registriert, sofern sie vor der 28. Schwangerschaftswoche geboren wurden, weniger als 1.000 Gramm wogen oder weniger als 35 Zentimeter Körperlänge hatten.

Hinzu kommt, dass rund zehn Prozent der Geburten in der Region erst gar nicht registriert werden. Insbesondere arme Eltern auf dem Land scheuen die Kosten und Mühen ihre Kinder zu melden. Da die Registrierung der Kinder keine direkten Vorteile bringt (z.B. staatliche Zuwendungen), halten sie dies auch oft nicht für notwendig. Doch wenn ein Kind bei der Geburt nicht registriert wird, ist es unwahrscheinlich, dass sein Tod irgendwo erfasst wird.

Als Schlussfolgerung aus der Studie fordert UNICEF die Regierungen auf, die Definition der Weltgesundheitsorganisation für eine Lebendgeburt zu übernehmen, um die wahre Dimension des Problems sichtbar zu machen. Weiter muss die Ausbildung von medizinischem Personal und das Management der Gesundheitsdienste für schwangere Frauen und bei der Geburtshilfe dringend verbessert werden. Schließlich müssen die Staaten endlich sicherstellen, dass alle Kinder bei ihrer Geburt registriert werden.

Armut, Flüchtlinge, AIDS
Die UNICEF-Studie dokumentiert auch in anderen Feldern erhebliche soziale Probleme für Kinder und Jugendliche. So leben heute trotz anhaltendem Wirtschaftswachstum allein in Russland rund elf Millionen Kinder in Armut. Länder wie Georgien, Kirgisien, Moldawien und Tadschikistan sind so überschuldet, dass ein Drittel der Regierungsausgaben in den Schuldendienst fließen. Ende 2001 hielten sich drei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in der Region auf. Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der HIV-Infizierten von 1 Million auf 1,2 Millionen. Darunter sind 140.000 Frauen und Kinder.

Problematische Praxis bei Auslandsadoptionen
Besorgniserregend ist auch der anhaltende Trend zu Auslandsadoptionen. So wurden seit dem Fall der Mauer 1989 rund 100.000 Kinder aus den Staaten der Region ins Ausland gebracht, die meisten von ihnen kamen aus Russland. Zusehends scheinen dort Auslandsadoptionen als eine reguläre Alternative für Kinder angesehen zu werden, die ohne Eltern sind oder von diesen nicht versorgt werden können. Kinderrechtsexperten sowie internationale Abkommen wie die Haager Konvention zu Auslandsadoptionen setzen jedoch darauf, dass zunächst alle Möglichkeiten geprüft werden, ob eine Pflege- oder Adoptivfamilie im Heimatland gefunden werden kann und sehen die Vermittlung ins Ausland grundsätzlich als "letzte Möglichkeit" an. Allerdings betrachten viele Mitarbeiter in Kinderheimen angesichts knapper Kassen die finanziellen Zuwendungen internationaler Adoptionsvermittlungs-Agenturen als lukrative Finanzierungsquelle. So zahlen kinderlose Paare in den USA zwischen 10.000 und 15.000 Dollar für die Vermittlung eines Kindes aus Russland. Ein Teil dieser Summe geht dann an das Kinderheim. Für die Suche nach Pflege und Adoptiveltern im Herkunftsland und dafür notwendige soziale Dienste steht dagegen kein Geld zur Verfügung.

Der vollständige Report kann auf Englisch und Russisch von der Homepage des UNICEF-Forschungszentrums "Innocenti" in Florenz herunter geladen werden oder bei UNICEF Österreich bestellt werden.