Kinderarmut in reichen Ländern

In den meisten reichen Nationen wächst der Anteil der Kinder, die in Armut leben.

In 17 von 24 OECD-Staaten hat sich die Situation von Kindern im Laufe des vergangenen Jahrzehnts verschlechtert. Insgesamt wachsen mehr als 45 Millionen Kinder in den 30 OECD-Staaten in einer Familie auf, die mit weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen muss. In Österreich lebt jedes zehnte Kind in relativer Armut, ebenso in Deutschland. Am niedrigsten liegt die Kinderarmut in Dänemark und Finnland (unter drei Prozent). Am höchsten ist der Anteil armer Kinder in den USA und in Mexiko (über 20 Prozent). Zu diesen Ergebnissen kommt die internationale UNICEF-Vergleichsstudie „Child Poverty in Rich Countries 2005“.

Drei Schlüsselfaktoren - Sozialpolitik, soziale Trends und Arbeitsmarkt - bestimmen maßgeblich, wie viele Kinder in einem reichen Land von relativer Armut betroffen sind.

• Sozialpolitik: Die UNICEF-Studie zeigt einen klaren Zusammenhang zwischen der Höhe staatlicher Aufwendungen und der Kinderarmut. In Ländern wie den USA und Italien, die weniger als fünf Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Sozialleistungen ausgeben, leben über 15 Prozent der Kinder in relativer Armut. Staaten, die wie Dänemark, Schweden, Finnland oder Belgien mehr als zehn Prozent ihres Bruttosozialprodukts in Sozialleistungen investieren, schaffen es durchweg, Kinderarmut auf unter zehn Prozent zu drücken. Im Durchschnitt senken Sozialleistungen und Steuererleichterungen Kinderarmut in Industriestaaten um 40 Prozent gegenüber dem Anteil, der zu erwarten wäre, überließe man die wirtschaftliche Lage der Familien alleine den Kräften des Marktes. Die Staaten mit der weltweit niedrigsten Kinderarmut, Dänemark, Finnland und Norwegen, unterstützen Familien mit Kindern in besonderem
Maße und senken die Armutsrate bei Kindern dadurch um 80 Prozent oder mehr. Staaten mit hoher Kinderarmut reduzieren die jeweilige Rate dagegen nur um zehn bis 15 Prozent.

• Soziale Trends: In den Industrieländern sinkt die Zahl der Kinder pro Familie. Gleichzeitig nimmt das Durchschnittsalter der Eltern zu. Dadurch verbessert sich tendenziell die wirtschaftliche Situation der Familien. Andererseits ist in vielen Ländern die Zahl der Alleinerziehenden gestiegen - und damit auch das Armutsrisiko.

• Arbeitsmarkt: Die Daten aus 13 OECD-Ländern zeigen, dass heute mehr Mütter besser ausgebildet sind. Auch der Anteil berufstätiger Mütter stieg in zehn Ländern. Trotzdem haben die Familieneinkommen häufig nicht zugenommen. Denn vor allem am unteren Ende der Lohnskala sind die Einkommen der Väter in vielen Ländern deutlich gesunken. Besonders dramatisch ist diese Entwicklung in Ungarn und in Deutschland verlaufen. In Ungarn sanken die Einkommen von Vätern in den 90er Jahren in den unteren zehn Prozent der Einkommensskala um 76 Prozent, in Deutschland um 22,7 Prozent. In den USA ist die gegenüber 1990 etwas niedrigere Rate der Kinderarmut vor allem auf die bessere Lage am Arbeitsmarkt zurückzuführen.

Sozialausgaben steigen - doch kaum zugunsten von Kindern
Der Bericht untersucht in 28 OECD-Ländern die Verteilung der Sozialbudgets nach Kategorien wie Altersvorsorge, Gesundheitssysteme und Zuwendungen für Familien mit Kindern. Mehr als die Hälfte der Länder gaben im Laufe der neunziger Jahre mehr für Sozialleistungen aus. Die meisten zusätzlichen Ausgaben sind in vielen Staaten jedoch in Altersrenten und in die Gesundheitssysteme geflossen.

Gleiche Ausgaben - unterschiedliche Wirkungen
Die Höhe der Sozialausgaben entscheidet nicht allein über das Ausmaß von Kinderarmut. So geben zehn OECD-Länder einen ungefähr gleich hohen Teil ihres Bruttosozialprodukts - zwischen sieben und zehn Prozent - für die soziale Absicherung von Familien aus. Trotzdem gibt es zwischen diesen Ländern beträchtliche Unterschiede bei der Armutsrate: Sie variiert von 3,4 Prozent in Norwegen über 10,2 Prozent in Deutschland bis zu über 15 Prozent in Neuseeland und Großbritannien. Offenbar hängt viel von der Art und Weise der Zuwendungen und ihrer Verteilung ab.
Wie unterschiedlich sich ähnlich hohe Sozialausgaben auf Kinderarmut auswirken können, lässt sich am Beispiel von Frankreich und Großbritannien illustrieren. In Frankreich gibt es ein breites System sozialer Unterstützung, das sich nicht auf eine bestimmte Altersgruppe konzentriert, von dem Kinder aber offenbar in hohem Maß profitieren. In Großbritannien unterstützt die Regierung dagegen sehr gezielt insbesondere Familien mit kleinen Kindern und geringem Einkommen. Trotzdem
ist Kinderarmut in Großbritannien doppelt so häufig wie in Frankreich. Das Problem in Großbritannien ist: Arme Familien mit Kindern bestreiten ihren Lebensunterhalt zu einem sehr hohen Teil aus staatlicher Unterstützung und nur zum geringen Teil aus bezahlter Arbeit. Dies weist auf ein zentrales Dilemma hin. Wenn die Regierung die Sozialausgaben nur auf besonders bedürftige Menschen konzentriert, geht die Hilfe zwar dorthin, wo sie besonders gebraucht wird. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, dass die Unterstützungszahlungen die Eigeninitiative lähmen. Die Menschen finden keine Arbeit und bleiben in der Armutsfalle.

Was getan werden muss:
Der UNICEF-Bericht gibt den Regierungen klare Empfehlungen, was sie tun sollten, um Kinderarmut wirksam zu bekämpfen.

• Haushalts- und Sozialpolitik an den Bedürfnissen von Kindern ausrichten: Kinder sind die schwächsten Glieder der Gesellschaft und sie sind ihre Zukunft. Sie vor Entbehrungen und Ausgrenzung zu schützen, ist deshalb sowohl Markstein für eine zivilisierte Gesellschaft als auch das Mittel, um den Lebensstandard und den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft insgesamt zu verbessern. Jede Regierung muss ihr Handeln danach ausrichten und dabei vor allem auf das Zusammenwirken der Faktoren achten, die das wirtschaftliche Wohlergehen von Kindern bestimmen: Familie, Markt und Staat.

• Kinderarmut definieren und kontrollieren: Es reicht nicht aus, Kinderarmut allein am Einkommen zu messen. Zwar ist der Einkommensvergleich ein wichtiger Indikator und eine praktikable Methode bei internationalen Vergleichen. Darüber hinaus muss aber jedes Land für sich Indikatoren festlegen, welche Bedürfnisse zum Beispiel hinsichtlich Bildung und Gesundheitsfürsorge erfüllt werden müssen, damit Kinder nicht ausgegrenzt werden, sondern einen Platz in der Gesellschaft finden.

• Klare Ziele für die Reduzierung von Kinderarmut festsetzen: Ein realistisches Ziel für die meisten OECD-Länder ist die Reduzierung der Kinderarmutsrate auf unter zehn Prozent. Dafür müssen klare Zeitvorgaben festgelegt werden. Zusätzlich sollte jede Regierung bei Amtsantritt veröffentlichen, wie hoch die Rate der Kinderarmut gemessen am Durchschnittseinkommen ist, und dies als Messlatte festlegen, hinter die man auf keinen Fall zurückfallen darf, auch wenn sich die wirtschaftliche Situation insgesamt verschlechtert.