Niemand weiß genau, wieviele Kinder weltweit bereits durch AIDS zu Waisen wurden. UNAIDS schätzt, daß bis Mitte 1996 9 Millionen Kinder unter 15 Jahren ihre Mütter durch AIDS verloren haben. 90 Prozent dieser Kinder leben in Afrika südlich der Sahara. Im Jahr 2000 werden etwa 13 Millionen Kinder ihr Mutter oder beide Elternteile verloren haben..
Diese Zahl von 9 Millionen ist erschütternd - doch sie spiegelt nur einen kleinen Teil einer viel größeren sozialen Tragödie wider. Kinder, deren Eltern HIV-Positiv sind, erleben Verlust und Leid schon lange vor dem Tod der Eltern.
In Brasilien zum Beispiel gibt es laut Schätzungen des "Global Orphan Project" etwa 183.000 Kinder mit noch lebenden oder bereits gestorbenen HIV-Positiven Müttern. Von diesen Kindern sind 6 Prozent bereits tatsächlich verwaist. Bei 94 Prozent leben die Mütter noch. Doch viele dieser Frauen leiden bereits an Krankheiten, und haben weder die körperliche Kraft, noch die finanziellen Mittel, noch die Unterstützung ihrer Familien, um für ihre Kinder zu sorgen. Diese Kinder erleben bereits Jahre vor dem Tod der Eltern Entbehrungen und Verwaistheit.
Vergleiche zu anderen Ländern sind schwierig, da Fruchtbarkeitsraten und HIV/AIDS-Raten unterschiedlich sind. Doch allgemein läßt sich feststellen, daß die Zahl der tatsächlichen Aidswaisen weit geringer ist, als die Zahl der Kinder, die mit HIV-Positiven Eltern leben. Aidswaisen stellen den sichtbaren Teil des Problems dar. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die höchste Zahl von Aidswaisen findet man in den am schwersten betroffenen Ländern. Angaben des US Bureau of Census und der Weltbank besagen, daß in Uganda 1,2 Millionen Kinder unter 18 Jahren zumindest einen Elternteil durch AIDS verloren haben. Diese Zahl erhöht sich jährlich um ungefähr 50.000. Laut UNICEF stellen Aidswaisen in Zimbabwe den größten Teil der Kinder dar, die "in schwierigen Umständen" leben - bis Ende 1996 haben etwa 8 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren ihre Mütter durch AIDS verloren.
Alle Kinder, die einen Elternteil verlieren, sind traurig und verwirrt. Doch im Falle von HIV/AIDS gibt es einige Unterschiede. Die psychologische Auswirkung von Todesfällen kann für Kinder weit intensiver sein, die ihre Eltern plötzlich verlieren - durch Unfälle oder im Krieg. HIV/AIDS nimmt einen nicht vorhersehbaren Verlauf. Bevor ein Patient stirbt gehen meist Monate oder Jahre mit Belastung, Leiden oder Depressionen voran. In Entwicklungsländern gibt es kaum Zugang zu Medikamenten, die das Leiden der Patienten erleichtern.
Der Kummer der Kinder wird oft durch Vorurteile und soziale Isolation verstärkt. Das Brandmarken von Familien mit Aidskranken führt oft zum Ausschluß der Kinder von Schule und medizinischer Versorgung, sowie zur Verweigerung der Erbrechte.
Ein grausamer Unterschied zu anderen Krankheiten ist die Tatsache, daß HIV/AIDS wahrscheinlich durch Geschlechtsverkehr zwischen Vater und Mutter weitergegeben wurde. Das Risiko beide Elternteile zu verlieren ist daher sehr hoch.
Die Großfamilie ist in vielen Ländern das traditionelle soziale Sicherheitsnetz. In vielen Entwicklungsländern werden von HIV/AIDS betroffene Familien durch Verwandte unterstützt. Aidswaisen werden oft von Onkeln und Tanten aufgenommen, oder sogar von Großeltern mit geringem Einkommen, die auf die finanzielle Hilfe der verstorbenen Söhne oder Töchter angewiesen waren.
Die bemerkenswerte Großzügigkeit vieler Menschen zeigt sich auch dadurch, daß viele Aidswaisen von Nachbarsfamilien aufgenommen werden. Eine Studie in Tansania ergab, daß Familien, die selbst Erfahrungen mit HIV/AIDS haben, eher bereit sind, Aidswaisen bei sich aufzunehmen.
Der finanzielle Druck auf solche Familien wird allerdings immer größer. "Bei mir leben 11 Waisen", sagt Leone aus Uganda. "Meine Schwester ist gestorben, und ließ sechs Kinder zurück. Die anderen fünf sind die Kinder meiner verstorbenen Tochter. Es ist sehr schwer für mich, für sie alle zu sorgen."
Ein weiteres Problem ist die wachsende Zahl der Haushalte, die von Kindern geführt werden. In vielen Fällen übersiedelten die Kinder nach dem Tod der Eltern zu den Großeltern - wenn diese auch sterben, kann es passieren, daß kein anderer Erwachsener mehr für die Waisen sorgen kann oder will.
Es gibt eine Verbindung zwischen HIV/AIDS, Verarmung und Verweigerung der Menschenrechte. Aidswaisen leben oft in sozialer Isolation. Bei einer Untersuchung in Thailand gaben 20 Prozent der von HIV/AIDS betroffenen Haushalte an, daß es anderen Kindern aus der Nachbarschaft verboten wurde, mit ihren Kindern zu spielen.
Nach dem Brandmarken kommt es meist zur Verarmung der Familien. Die erwähnte thailändische Studie fand heraus, daß viele Eltern ihren Arbeitsplatz aufgrund von HIV/AIDS verloren hatten, und daß Familienunternehmen ihre Kunden verlieren.
Viele Großfamilien, die Aidswaisen bei sich aufnehmen, können es sich nicht leisten, alle ihre Kinder zur Schule zu schicken. Waisen sind oft die Ersten, denen das Recht auf Schulbesuch verweigert wird. "Meine Pflegemutter möchte nicht, daß ich noch länger zur Schule gehe. Sie will, daß ich als Hausmädchen arbeite, und Geld verdiene, damit sie Lebensmittel kaufen kann", sagt Beatrice aus Kenia. Eine Studie in Sambia fand heraus, daß in den Städten 32 Prozent aller Waisenkinder nicht zur Schule gehen, im Vergleich zu 25 Prozent aller Nichtwaisen. In ländlichen Gebieten besuchen 68 Prozent der Waisen keinen Unterricht, im Gegensatz zu 48 Prozent der Nichtwaisen.
Viele Familien können es sich ganz einfach nicht leisten, ihre Kinder zur Schule zu schicken. "Als mein Vater starb, war ich 14 Jahre alt", sagt Maurice Kibuuka aus Uganda. "Wir sind acht Kinder, und meine Mutter mußte allein für uns sorgen. Ich wurde der Familienvorstand, und bin verantwortlich für Geld, Nahrung, Kleidung und Wohnung. Ich hatte keine Wahl, ich mußte die Schule abbrechen und arbeiten."
Viele Aidswaisen erhalten keine medizinische Betreuung wenn sie krank werden, da angenommen wird, daß diese Kinder auch HIV-Positiv sind, und es daher sowieso keine Heilungschance für sie gibt. Allerdings werden zwei Drittel aller Kinder von HIV-Positiven Müttern nicht mit dem Virus infiziert.
In vielen Fällen verlieren Aidswaisen ihre Besitz- und Erbrechte. Die Wahrnehmung der Rechte des Kindes ist mit den Menschenrechten ihrer Mütter verbunden. Gesetze, die Frauen Bürgerrechte entziehen, haben daher verheerende Auswirkungen auf das Leben ihrer Kinder.
Armut und Isolation werden zu einem schrecklichen Kreislauf, der das Risiko von Aidswaisen, besonders von Mädchen, selbst infiziert zu werden, noch erhöht. "Diese Dame, bei der ich wohne, behandelt mich schlecht, weil meine Mutter tot ist", erzählt ein Mädchen aus Uganda. "Sie will, daß ich mit Männern schlafe, weil ich in ihrem Haus wohne. Sie bringt diese Männer ins Haus und stellt mich ihnen vor. Sie sagt mir, ich muß gut zu ihnen sein, sonst könne ich nicht weiterhin bei ihr wohnen."
Die Probleme von Familien, die von AIDS betroffen sind, wurden zu einer wichtigen Priorität von nationalen Hilfsprogrammen und von internationalen Organisationen wie UNICEF. Weltweit gibt es Tausende kleine Programme auf Gemeindebasis, um Aidswaisen zu unterstützen, doch der Bedarf ist sehr viel höher. In den ärmsten Ländern der Welt werden Aidswaisen oft nur als ein Problem von vielen angesehen. Investition in diese verwaisten Kinder ist jedoch wichtig für eine stabile Zukunft - für die der Kinder und für die der Gemeinden.
Für Kinder sind die Probleme ab dem Moment akut, in dem ein Elternteil als HIV-Positiv diagnostiziert wird. Wenn Hilfsorganisationen warten, bis ein Kind zur Waise wird, ist es fast schon zu spät. Maßnahmen für das weitere Leben der Kinder müssen vor dem Tod der Eltern getroffen werden. HIV-Positive Eltern sollen in rechtlichen Fragen beraten werden.
Waisenhäuser sollten der letzte Ausweg sein. Die Verbindung zur eigenen Familie, zu älteren Generationen und zu den eigenen sozialen Wurzeln ist sehr wichtig für ein Kind. Die Unterbringung in einem Waisenhaus hat oft Brandmarken und Diskriminierung zur Folge. Institutionen haben meist nicht die Möglichkeit, Kinder mit einer stetigen, vertrauensvollen Beziehung zu einer erwachsenen Person zu versorgen. Kinder aus Waisenhäusern haben erwiesenermaßen Probleme mit der Reintegration in ihre Heimatgemeinden und leiden unter mangelndem Selbstvertrauen.