Zunehmende Mangelernährung im Gazastreifen bedroht das Leben von Kindern

Genf/New York/Rom/Wien – Besonders ernst ist die Lage im Norden, wo eines von sechs Kindern unter zwei Jahren akut mangelernährt ist.

Ein Mädchen im Gazastreifen wird auf Mangelernährung untersucht.
© UNICEF/UNI519938/El Baba

Ein steiler Anstieg der Mangelernährung bei Kindern, schwangeren und stillenden Frauen im Gazastreifen stellt eine ernste Bedrohung für ihre Gesundheit dar. Dies geht aus einer umfassenden neuen Analyse hervor, die vom Global Nutrition Cluster veröffentlicht wurde.

Während der Konflikt im Gazastreifen in die 20. Woche geht, sind Nahrungsmittel und sauberes Wasser unglaublich knapp geworden und Krankheiten grassieren, was die Ernährung und Immunität von Frauen und Kindern beeinträchtigt und zu einem Anstieg der akuten Mangelernährung führt.

Der Bericht „Nutrition Vulnerability and Situation Analysis Gaza“ stellt fest, dass die Situation im nördlichen Gazastreifen, der seit Wochen fast vollständig von der Versorgung abgeschnitten ist, besonders extrem ist. Ernährungsanalysen, die in Unterkünften und Gesundheitszentren im Norden durchgeführt wurden, ergaben, dass 15,6 %  (oder 1 von 6 Kindern unter zwei Jahren) akut mangelernährt sind. Davon leiden fast 3 % an schwerer Auszehrung, der lebensbedrohlichsten Form der Mangelernährung, die bei Kleinkindern das höchste Risiko für medizinische Komplikationen und den Tod birgt, wenn sie nicht dringend behandelt werden. Da die Daten im Jänner erhoben wurden, dürfte die Situation heute noch gravierender sein.

Ähnliche Untersuchungen im südlichen Gazastreifen, in Rafah, wo mehr Hilfe zur Verfügung stand, ergaben, dass 5 % der Kinder unter zwei Jahren akut mangelernährt sind. Dies ist ein klarer Beweis dafür, dass der Zugang zu humanitärer Hilfe notwendig ist und dazu beitragen kann, die schlimmsten Folgen zu verhindern. Außerdem wird die Forderung der Hilfsorganisationen, Rafah vor den drohenden verstärkten Militäroperationen zu schützen, verstärkt.

Der Gazastreifen steht kurz vor einer Explosion vermeidbarer Todesfälle bei Kindern, die das ohnehin schon unerträgliche Ausmaß des Kindersterbens im Gazastreifen noch verschlimmern würde", sagte Ted Chaiban, stellvertretender UNICEF-Exekutivdirektor für humanitäre Maßnahmen und Versorgungseinsätze. „Wir warnen schon seit Wochen davor, dass der Gazastreifen am Rande einer Ernährungskrise steht. Wenn der Konflikt jetzt nicht beendet wird, wird sich die Ernährungslage der Kinder weiter verschlechtern, was zu vermeidbaren Todesfällen oder Gesundheitsproblemen führen wird, die die Kinder im Gazastreifen für den Rest ihres Lebens beeinträchtigen und möglicherweise generationsübergreifende Folgen haben werden."

Vor den Feindseligkeiten der letzten Monate war die Auszehrung im Gazastreifen selten, nur 0,8 % der Kinder unter 5 Jahren waren akut mangelernährt. Die Rate von 15,6 % der mangelernährten Kinder unter zwei Jahren im nördlichen Gazastreifen deutet auf einen ernsthaften und schnellen Rückgang hin. Eine derartige Verschlechterung des Ernährungszustands einer Bevölkerung innerhalb von drei Monaten ist weltweit beispiellos.

Aufgrund des alarmierenden Mangels an Nahrungsmitteln, Wasser sowie Gesundheits- und Ernährungsdiensten besteht ein hohes Risiko, dass die Mangelernährung im gesamten Gazastreifen weiter zunehmen wird:

  • 90 % der Kinder unter 2 Jahren und 95 % der schwangeren und stillenden Frauen leiden unter schwerer Nahrungsmittelarmut, d. h. sie haben am Vortag zwei oder weniger Nahrungsmittelgruppen verzehrt, und die Nahrungsmittel, zu denen sie Zugang haben, sind von geringstem Nährwert.
  • 95 % der Haushalte schränken Mahlzeiten und Portionsgrößen ein, wobei 64 % der Haushalte nur eine Mahlzeit pro Tag zu sich nehmen.
  • Mehr als 95 % der Haushalte gaben an, dass sie die Nahrungsmenge für Erwachsene eingeschränkt haben, um sicherzustellen, dass kleine Kinder etwas zu essen haben.

Der steile Anstieg der Mangelernährung, den wir im Gazastreifen beobachten, ist gefährlich und absolut vermeidbar", sagte Valerie Guarnieri, stellvertretende Exekutivdirektorin des WFP für Programmarbeit. „Vor allem Kinder und Frauen brauchen ständigen Zugang zu gesunden Nahrungsmitteln, sauberem Wasser und Gesundheits- und Ernährungsdiensten. Damit dies möglich ist, müssen wir die Sicherheit und den Zugang für humanitäre Hilfe entscheidend verbessern und zusätzliche Einreisemöglichkeiten für Hilfsgüter nach Gaza schaffen."

Unzureichendes sauberes Trinkwasser sowie unzureichendes Wasser zum Kochen und für Hygienezwecke verstärken die schlechte Ernährungslage. Im Durchschnitt hatten die befragten Haushalte Zugang zu weniger als einem Liter sauberem Wasser pro Person und Tag. Gemäß den humanitären Standards beträgt die Mindestmenge an sicherem Wasser, die in einer Notsituation benötigt wird, drei Liter pro Person und Tag, während der allgemeine Standard bei 15 Litern pro Person liegt, was ausreichende Mengen zum Trinken, Waschen und Kochen beinhaltet.

Hungrig, durstig und geschwächt werden immer mehr Menschen im Gazastreifen krank. Dem Bericht zufolge sind mindestens 90 % der Kinder unter fünf Jahren von einer oder mehreren Infektionskrankheiten betroffen. 70 % der Kinder hatten in den letzten zwei Wochen Durchfall, eine 23-fache Zunahme im Vergleich zum Basisjahr 2022.

Hunger und Krankheit sind eine tödliche Kombination", sagte Dr. Mike Ryan, Exekutivdirektor des WHO-Programms für Gesundheitsnotfälle. „Hungrige, geschwächte und zutiefst traumatisierte Kinder werden eher krank, und kranke Kinder, insbesondere mit Durchfall, können Nährstoffe nicht gut aufnehmen. Das ist gefährlich und tragisch, und es geschieht vor unseren Augen".

Ohne weitere humanitäre Hilfe wird sich die Ernährungslage im Gazastreifen wahrscheinlich weiter rapide und in großem Umfang verschlechtern. Da die meisten Gesundheits-, Wasser- und Abwassersysteme stark geschädigt sind, müssen die noch funktionierenden Einrichtungen unbedingt geschützt und verstärkt werden, um die Ausbreitung von Krankheiten einzudämmen und eine Verschlimmerung der Unterernährung zu verhindern.

UNICEF, WFP und WHO fordern einen sicheren, ungehinderten und dauerhaften Zugang zur dringenden Bereitstellung sektorübergreifender humanitärer Hilfe im gesamten Gazastreifen. Dazu gehören nahrhafte Lebensmittel, Nahrungsmittellieferungen und wichtige Dienstleistungen für unterernährte und gefährdete Kinder und Frauen, die einen sicheren Zugang zu Gesundheits- und Ernährungsversorgung und Behandlungsdiensten benötigen, insbesondere für Säuglinge und Kleinkinder unter fünf Jahren. Krankenhäuser und medizinisches Personal müssen vor Angriffen geschützt werden, damit sie wichtige Behandlungen und Pflegeleistungen sicher erbringen können. Ein sofortiger humanitärer Waffenstillstand bietet weiterhin die beste Chance, Leben zu retten und das Leiden zu beenden.

UNICEF bittet weiterhin um Spenden für die Nothilfe Nahostkonflikt, um lebensrettende Hilfe für Kinder leisten zu können.

Hinweise für Redaktionen:

Aufgrund von Sicherheits- und Zugangsproblemen im gesamten Gazastreifen ist es nahezu unmöglich, anthropometrische Daten zu erheben, um die Raten der akuten Mangelernährung zu messen. Die Erhebung anthropometrischer Daten (MUAC) war nur in zwei Gebieten (Nord-Gaza und Rafah) bei Kindern unter zwei Jahren möglich. Im Bericht wurde daher eine innovative Analysemethode angewandt, um diese Daten zu untermauern und festzustellen, dass die akute Mangelernährung im gesamten Gazastreifen zunimmt. Mit dieser Methode wurden Daten zu den Ursachen der Unterernährung - Mangel an Nahrungsmitteln, Krankheitsraten, fehlender Zugang zu sauberem Wasser und fehlende Gesundheitsdienste - analysiert, die über Telefon- und SMS-Fragebögen erhoben wurden. Aus der Analyse der Hauptursachen können wir schließen, dass die akute Unterernährung im gesamten Gazastreifen rasch zunimmt.

Den Bericht finden Sie auf der Website des Nutrition Clusters.